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La Mémoire de l’Exil – Exil und Poesie

H.A.M. 0

Bericht über zwei deutsch-französische Schreibwerkstätten FABRIKAMO in Aix-en-Provence (29.8.-3.9.2005) und Marseille (23.-30.10.2005)

Seit 1996 organisieren wir im Verein PASSAGE & Co. in Marseille (Südfrankreich) deutsch-französische Schreib- und Übersetzungswerkstätten, an denen sowohl bekannte Autoren aus verschiedenen deutsch- und französischsprachigen Ländern als auch junge Leute aus Deutschland und Frankreich teilnehmen. Im August/September und Oktober 2005 standen die FABRIKAMO-Schreibwerkstätten, an denen insgesamt 38 vornehmlich junge literaturinteressierte Leute aus Deutschland und Frankreich teilnahmen, im Zeichen der Erinnerung an ein finsteres Kapitel deutsch-französischer Geschichte: die Emigration zigtausender Nazigegner und aus rassistischen Gründen Verfolgter während des 2. Weltkriegs nach Frankreich. Sie erhofften Schutz, aber wurden als „unerwünschte Ausländer“ interniert. Sie bemühten sich um Aufenthalts- und Ausreisepapiere, aber man verweigerte sie ihnen. Nur wenigen, entweder sehr bekannten oder besonders wohlhabenden Exilanten gelang schließlich die Flucht aus Europa.
Den vielen anderen, blieb, wie André Gide in sein Tagebuch schrieb: „nur die Unrast, die Verzweiflung oder der Wahnsinn“.


Wir gingen der Geschichte zuerst in der Ziegelei in Les Milles, nahe Aix-en-Provence, nach, die bei Kriegsausbruch provisorisch in ein Internierungslager umgebaut worden war.
In dieser Fabrik, deren staubige Ungastlichkeit Lion Feuchtwanger in seinem Bericht „Der Teufel in Frankreich“ so eindrucksvoll beschrieben und Maler wie Ferdinand Springer, Wols oder Hans Bellmer grafisch festgehalten haben, lebten zeitweise bis zu 10.000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht. Das Lager war zuerst Internierungs-, dann Transit und am Ende Deportationslager.
Die heute noch erhaltenen Spuren künstlerischer Aktivitäten, wie die Mauerinschrift des Kabaretts „Die Katakombe“ oder die Wandmalereien im Refektorium der Wachmannschaft, kreuzen sich mit der Erinnerung daran, dass sich an diesem Ort zahlreiche menschliche Tragödien abspielten: der expressionistische Dramatiker Walter Hasenclever nahm sich im Lager aus Verzweiflung das Leben, Frauen sprangen mit ihren Kindern vom 2. Stock der Fabrik ins Leere, um der Deportation zu entgehen.
Nach dem Krieg wurde die Ziegelei wieder in Betrieb genommen; man weisste die Wände, räumte die Hallen auf, schloss den Bahnhof vor der Fabrik, von dem im August und September 1942 über 2000 Juden in Viehwaggons nach Drancy losgefahren waren, und zog einen Strich unter die Vergangenheit.
Die Geschichte der Ziegelei, heute im Besitz der Firma „Lafarge“, rückte erst in den siebziger und achtziger Jahren erneut ins Bewusstsein einiger Historiker. Vorsichtig begann man mit der Spurensicherung, die schließlich Ende der neunziger Jahre zur Restaurierung der Wandmalereien im kleinen Wachraum und zur Einrichtung einer Gedenkstätte in einem der ehemaligen Deportationswaggons führte. Die Fabrikhallen, in denen sich die Internierten aufhielten und schliefen, warten noch immer auf ihre Umwandlung in einen öffentlichen Raum der kollektiven Erinnerung.
Seit 2002 arbeitet eine Expertenkommission daran, aus dem ehemaligen Internierungslager eine nationale Gedenkstätte zu machen, in der sich Geschichte und Aktualität der Exilfrage kreuzen, wo heutigem Rassismus und Antisemitismus der Spiegel historischer Greuel, die im Holocaust endeten, vorgehalten werden soll.


In dieser Zwischenzeit, vielleicht im letzten Augenblick vor Beginn großangelegter Sanierungsarbeiten, gestatteten uns die Mitarbeiterinnen des Vereins Mémoire du Camp des Milles ausnahmsweise den Zutritt zu den Hallen, in denen so bedeutende Künstler, Wissenschaftler und Politiker wie Lion Feuchtwanger, Max Ernst, Golo Mann, Franz Hessel, Fritz Brunner, Otto Fritz Meyerhof, Gerhart Eisler u.v.a. zwischen 1939 und 1942 viele Monate lang kampierten.
Als wir uns im Oktober zum zweiten Mal in Les Milles mit Odile Boyer und Laure Bougon zur Ortsbesichtigung und einem langen Gespräch über Vergangenheit, Gegenwart und zukünftige Bestimmung des Lagers trafen, war Sylvie Serror mit dabei. Ihre Eltern waren im Lager Les Milles interniert gewesen. Für sie war die Besichtigung der Hallen eine seit langem ersehnte Rückkehr zu den Wurzeln ihrer familiären Tragödie. Sie erzählte uns von der Flucht ihrer Eltern, der Gefangenschaft und von den Bedingungen, unter denen ihre ältere Schwester in einem der Lager zur Welt kam.
Unter diesem besonders starken Eindruck begann im Oktober in Marseille unter Leitung von Dorothée Volut (1) die Arbeit in der Schreibwerkstatt. Im Vorfeld hatten die TeilnehmerInnen zu verschiedenen Künstlern recherchiert und manch einer kannte bereits den Marseille-Roman „Transit“ von Anna Seghers oder den Bericht von Lion Feuchtwanger über das Lager Les Milles.
Nun ging es in Marseille, wie auch schon im Sommer in Aix-en-Provence, darum, das Wissen über die Geschichte, die Empfindungen und Reflexionen zu Papier zu bringen. Aber nicht in Form persönlicher Lyrik, sondern nach festen Regeln und nach Textvorgaben bekannter Dichter. Sie waren auf die eine oder andere Weise vom Exil gezeichnet worden, aber hatten ihrer Erfahrung eine neue, aus der konkreten Auseinandersetzung mit der (Fremd)-Sprache heraus entstandene Gestalt zu geben vermocht.


Unser wichtigstes Anliegen bestand in beiden Werkstätten darin, das Exil-Thema mit dem sprachlichen Experiment in der zeitgenössischen Poesie zu verbinden. Dorothée Volut wählte Texte aus, die sie persönlich angesprochen und als Dichterin beeinflusst haben: der Roman „Transit“ von Anna Segehrs, „Ellis Island“ von Georges Perec, „Hors-Limite“ von Gherasim Luca und das Werk des jüngst viel zu früh verstorbenen Poesie-Avantgardisten Christophe Tarkos.
Die von Dorothée Volut getroffene Auswahl der in beiden Schreibwerkstätten entstandenen Texte zu den Vorlagen von A. Seghers, G. Perec und G. Luca, die auf dieser Website erscheinen, folgte dem Prinzip, nicht alle, sondern die besten und interessantesten Texte zu jedem Arbeitsthema zu veröffentlichen.
Den Texten wird die jeweilige Textvorlage und Arbeitsregel vorangestellt.
Obwohl die beiden, auf französisch durchgeführten, Schreibwerkstätten hohe sprachliche Anforderungen an die deutschen TeilnehmerInnen stellten, sind deren Texte kaum von denen der französischen Muttersprachler zu unterscheiden. Wir halten diese erstaunliche Reife den kreativen Impulsen zugute, die aufgrund des intensiven künstlerischen Dialogs mit den Animateuren und der positiven – in der 2.Werkstatt geradezu euphorischen – Gruppendynamik freigesetzt und in schönste Sprachschöpfungen umgesetzte wurden.
Aber lassen Sie sich überraschen! Unterdessen danken wir dem Exil-Archiv.de für seine geduldige und tatkräftige Unterstützung bei der Veröffentlichung neuer POESIE von Gerhild, Sylvie, Daniel, Gilbert, Nicole, Louisette, Elise und Charlotte aus Frankreich und Verena, Julia, Elisabeth, Silke, Katharina, Sophie, Hannah und Swantje aus Deutschland.


(1) Dorothée Volut wurde 1973 in Strasbourg geboren. Sie lebt seit 2002 in Marseille und arbeitet dort als Dichterin und Animateurin von Schreibwerkstätten. Sie studierte Theaterwissenschaft, Bühnenbild und Regie. Bei ihrer Ankunft in Marseille erkundete sie die Stadt auf den Spuren von Anna Seghers Roman „Transit“. Aus ihren Recherchen gingen eine Ausstellung und mehrere Schreibwerkstätten zum Exil-Thema hervor.


Autorin:
Sabine Günther (Projektleiterin des Vereins PASSAGE & Co.)


Ein ausführliches Interview mit Sabine Günther zum Thema Schreibwerkstätten und Exil können Sie hier als MP3 herunterladen.

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