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Hessel, Franz

H.A.M. 0

Franz Hessel
Autor, Übersetzer und Lektor


Geb. 1880 in Berlin
Gest. 1941 in Sanary-sur-Mer/ Frankreich


Nach Paris kehrte er immer wieder zurück, Berlin war der Ort seiner Kindheit. Alle Wirren des jungen zwanzigsten Jahrhunderts scheint er miterlebt zu haben: Die Münchner Bohème, die Avantgarde um den 1. Weltkrieg in Paris und Berlin, den Schock der Inflation und das Exil. 1933 blieb der Autor, Übersetzer und Lektor des Ernst Rowohlt Verlages zunächst in Berlin, erst kurz vor der Reichs-pogromnacht fährt er nach Frankreich. Zu Beginn des 2. Weltkriegs bezieht er in Sanary-sur-Mer – damals Hauptstadt der deutschen Exilliteratur – das leer stehende Haus von Aldous Huxley. Nach dem deutschen Angriff auf Frankreich wird er jedoch als „feindlicher Ausländer“ interniert. Wieder freigelassen, stirbt er bald darauf – vermutlich an den Strapazen – in Sanary-sur-Mer. Von seinen Zeitgenossen wurde er als bis in seine letzten Stunden klaglos gütiger Mensch beschrieben.


Einführung

Franz Hessel wird bescheinigt, ein grandioser Stilist und vielleicht einziger Flaneur der deutschen Literatur zu sein:

„Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht. Wenn man ihnen auch noch so geschickt ausweicht. Ich bekomme misstrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb“.


Seine Themen spielen sich oft auf der Straße ab. Er schaute gerne zu und schlüpfte in die Rolle eines Kindes, um alles Sonderbare zu erfassen. Ihn interessierte das Atmosphärische, weniger die Handlung einer Geschichte, die Pointe oder das Dramatische. Im Kraftfeld der Metropolen Paris und Berlin entwickelt er ein feines Gespür für Entlegenes, Beiläufiges und Unaufgeregtes. Zentrum von Hessels Werk ist die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der ästhetischen Wahrnehmung. Alfred Polgar sah in ihm den Philosophen und Dulder, der „von Menschen und Dingen, sie freundlich verfälschend, das Üble und Gemeine“ wegnimmt.


Drei Werkphasen (2)

Vor dem ersten Weltkrieg veröffentlichte Hessel, der zunächst in München, ab 1906 in Paris lebte, den Gedichtband „Verlorene Gespielen“, die Erzählungen „Laura Wunderl“ und den Roman „Der Kramladen des Glücks“ (1913). 1920 folgt die „Pariser Romanze“.
Hessels Flaneur der ersten Werkphase geht erinnernd auf den Spuren kindlicher Erfahrung durch die unvollkommene Gesellschaft, durch keine Funktion in sie eingebunden. Er meldet Widerstand gegen die Prinzipien der kapitalistischen Gesellschaft an: gegen Arbeitsteilung, Betriebsamkeit und den Tauschwert der Gegenstände. Auf der Suche nach vollkommener Einheit wird die Trennung von Subjekt und Objekt negiert: Das Leben soll zum Kunstwerk werden. Der ausschließlich poetische Zugang zur Welt wird jedoch mit der Zeit abgeschwächt: Die Stadtwahrnehmung des Flaneurs der „Pariser Romanze“ (1920) unterscheidet sich deutlich von der in „Spazieren in Berlin“ (1929).


1919 wird Hessel Lektor bei Ernst Rowohlt, denn durch die Inflation verliert er sein gesamtes Vermögen. Er gibt die Literaturzeitschrift „Vers und Prosa“ (1924) heraus und übersetzt aus dem Französischen, u.a. zwei Bände von Prousts „A la recherche du temps perdu“, zusammen mit Walter Benjamin. Bis 1933 veröffentlicht er weitere Romane und kleine Prosa, etwa „Heimliches Berlin“ (1927), „Teigwaren leicht gefärbt“ (1926), „Nachfeier“ (1929), „Spazieren in Berlin“ (1929).


Das Schreiben war ihm mittlerweile auch zum Broterwerb geworden, das Blickfeld wird ausgedehnt. Er berichtet „Vom Backofen, von den Überschuhen und dem Schweinchen“, „Das Lederetui“ ist ihm ebenso Thema wie „Das Briefpapier“ oder die Frage „Warum reise ich gern?“ In „Heimliches Berlin“ (1927) wird die ästhetische Sezession aus der bürgerlichen Gesellschaft vorsichtig aufgegeben, nicht länger steht der Protagonist „jenseits, sondern mittendrin“. In „Ermunterung zum Genuss“ (1933) diagnostiziert Hessel eine Aushöhlung der humanistischen Substanz des Individuums durch die moderne Massen- und Mediengesellschaft und tritt für eine dem entgegenwirkende Lebenspraxis ein.


Charakteristisch für die dritte Werkphase (1926-1933) ist der Text „Vorschule des Journalismus“ (1927). Der Autor schildert, wie ihn ein journalistischer Auftrag zur Veränderung seiner Wahrnehmung veranlasst. Explizit wendet er sich nun dem „Neuen“ in der Stadt zu. Anstelle der Identitätsdiffusion im urbanen Erleben des Flaneurs, die auch als Flucht vor der beunruhigenden weiblichen Sexualität interpretiert wurde, tritt nun die bewusst aktuelle Lektüre der Stadt.


Im Dritten Reich erhält Franz Hessel als Jude Schreib- und Arbeitsverbot, aber Ernst Rowohlt beschäftigt ihn weiterhin als Lektor. 1938 flieht er schließlich nach Frankreich.
Durch die Kahlschlagpolitik des NS-Regimes wurde Hessel – wie viele andere verfemte Künstler – seit 1933 kaum mehr rezipiert. Erst am Ende der Adenauerzeit wird in der Bundesrepublik die Exilliteratur wieder entdeckt und auch Hessel findet langsam mehr Erwähnung. Immerhin erst in den 80er Jahren wird im Nachlass von Alfred Polgar ein Fragment entdeckt, an dem Hessel 1933 und im Pariser Exil gearbeitet hat. Unter dem Titel „Alter Mann“ wird es erstmals 1987 veröffentlicht. 1989 tauchte ein weiterer bedeutender Mosaikstein auf, das Fragment „Letzte Heimkehr“ (3), entstanden in den Jahren vor seinem Tod.


Im Jahr 1999 publizierte der Igel Verlag endlich Franz Hessels Sämtliche Werk in fünf Bänden, vorbildlich ediert und kommentiert: Romane, Prosasammlungen, Städte- und Menschenporträts, Gedichte und Theatertexte, Kritiken, Feuilletons, Fragmente und Miniaturen. Ein Gedicht!

Franz Hessel hat uns eine Denk- und Schreibweise hinterlassen, eine Phänomenologie an Lesarten und Wahrnehmungsweisen von Menschen, Dingen und Stadträumen. Zudem formulierte er aus einer skeptisch leisen Gegenwelt heraus die unverzichtbare Kritik an den durch Zweckrationalität und Fanatismus verursachten geschichtlichen Katastrophen.


Biographisches:

„Von den Irrtümern der Liebenden“ heißt eine Prosasammlung von Franz Hessel. Auch sein Leben enthält Irrtümer in den seltsamsten Konstellationen und Situationen, doch gewiss nicht mehr als das anderer Leute. Für Frauen hatte er eine wirkliche Schwäche, als Student lebte er in München mit Franziska von Reventlow, verliebt sich später in Paris in Marie Laurencin und heiratet 1913 eine andere Malerin: Helen Grund. Obwohl diese mit seinem besten Freund, dem Schriftsteller Henri-Pierre Roché eine leidenschaftliche Verbindung eingeht, bleibt er mit ihr freundschaftlich verbunden. Das turbulente Geschehen wurde zum Stoff für Truffauts Film „Jules et Jim“.

Um den biographischen Aspekt an Franz Hessel zu erhellen, sind auch die Zeugnisse seiner Frau Helen Grund und die seiner beiden Söhne einzubeziehen (4). Helen Hessel-Grund schrieb in den Zwanziger und Dreißiger Jahren für die Frankfurter Zeitung, über ihren Mann verfasste sie Anfang der 50er Jahre ein lebendiges Porträt“ „C’était un brave“ (5)
Stéphane Hessel, einer der beiden Söhne, geboren 1917 in Berlin, aufgewachsen in Paris, hat eine Autobiographie geschrieben, die zum Verständnis des 20. Jahrhunderts beiträgt (6). 1939 war er in die französische Armee eingetreten, schloss sich dem Widerstand an, wird 1944 von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald verschleppt. Durch Identitätstausch überlebt er. Später wird er Diplomat, unter anderem bei den Vereinten Nationen. Unermüdlich befasst er sich mit den politischen Problemen der Welt und den Menschenrechten, etwa in Algerien und Afrika. Bis heute setzt er sich z.B. für die Situation von Arbeitsimmigranten in Frankreich und Fragen der Pressefreiheit ein.


Zitat-Nachweis:

(1) Hessel, Franz. Spazieren in Berlin. Werke in 5 Bänden.
(2) Ich beziehe mich hier auf die ausgezeichnete Untersuchung
von Jörg Plath zu Hessels Werk: Liebhaber der
Großstadt. Ästhetische Konzeptionen im Werk Franz
Hessels. Paderborn 1993
(3) Flügge, Manfred (Hg.) Letzte Heimkehr nach Paris.
Franz Hessel und die Seinen im Exil. Das Arsenal. Berlin 1989
(4) Flügge, Manfred (Hg.). op.cit.
(5) Flügge, Manfred (Hg.). op. cit.
(6) Hessel, Stéphane. Tanz mit dem Jahrhundert. Erinnerun-
gen. Zürich 1998


Literatur von und zu Franz Hessel:

– Franz Hessel. Sämtliche Werke. Band I: Romane, Band II: Prosasammlungen, Bd.HI: Städte und Porträts, Band
IV: Lyrik und Dramatik, Band V: Verstreute Prosa, Kritiken; herausgegeben von Hartmut Vollmer u.a.. Igel
Verlag, Oldenburg 1999. 2001 Seiten
– Plath, Jörg. Liebhaber der Großstadt. Ästhetische Konzeptionen im Werk Franz Hessels. Oldenburg 1994
– Flügge, Manfred (Hg.). Letzte Heimkehr nach Paris. Franz Hessel und die Seinen im Exil. Berlin 1989
– Hessel, Stéphane. Tanz mit dem Jahrhundert. Erinnerungen. Zürich 1998


Weitere Zeugnisse und Hinweise in:

– Feuchtwanger, Lion. Der Teufel in Frankreich. Ffm 1986
– Flügge, Manfred. Wider Willen im Paradies. Deutsche Schriftsteller im Exil in Sanary-sur-Mer. Berlin 1996
– Fry, Varian. Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41. München 1986
– Kantorowicz, Alfred „Exil in Frankreich“. Merkwürdigkeiten und Denkwürdigkeiten. Ffm 1986
– Kaléko, Mascha. Der Gott der kleinen Webfehler. München 1985
– Weinzierl, Ulrich. Alfred Polgar im Exil, Nachwort zu Alfred Polgar, Taschenspiegel. Wien 1979


Autorin:

Cornelia Frenkel


Links (deutsch):

 

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