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Bohrer, Harry

H.A.M. 0

Harry (Hanus) Bohrer
Journalist und „Vater des SPIEGEL“ (GB)

Geboren 1916 in Prag
Gestorben 1985 in London


„Viel Furchtbares ist, doch nichts ist furchtbarer als der Mensch.“ Mit diesem Motto aus der „Antigone“ von Sophokles berichtet ein 21jähriger demobilisierter deutscher Soldat am 11. August 1945 über den Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima. Der Autor des Artikels in dem von den britischen Behörden lizensierten „Hannoverschen Nachrichtenblatt“ heißt Rudolf Augstein. Wenig später wird er von drei britischen Militärs zu neuen Aufgaben berufen. Zwei von ihnen, der frühere deutsche Richter Henry Ormond alias Hans-Ludwig Oettinger aus Mannheim, und Harry Bohrer sind jüdische Exilanten.
Stabsfeldwebel Bohrer stammt aus der von Deutschland zerschlagenen Tschechoslowakei.   Familienmitglieder von ihm sind in Konzentrationslagern umgebracht worden. Und dennoch: Er hilft mit bei der Gründung des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, das mit seiner neuen kritischen Form des Journalismus dazu beigetragen hat, dass (West-)Deutschland eine Demokratie wurde.


„Am 16.November 1946″, schreibt Hans Werner Scheidl am 28. Dezember 2007 in der Zeitung „Die Presse“, „erscheint >Diese Woche<, aus der bald >Der Spiegel< werden sollte. Motor, Chef und Erzieher in einem ist Harry Bohrer, der nach England emigriert war und als Soldat Seiner Britischen Majestät nach Deutschland zurückgekehrt war. Er übernimmt die Schutzfunktion für diese Redaktion totaler Laien. Zum Studium an der Universität Göttingen, wie vorgesehen, sollte es Augstein nie bringen. >Hunger an der Ruhr< ist seine erste Story im ersten Heft, und schon die hat es in sich. So schonungslos traut sich keine Zeitung die britische Deutschlandpolitik zu kritisieren.  Chefredakteur Bohrer wimmelt alle Beschwerden trotzig ab, 1947 firmiert Augstein schon als Lizenzträger des Nachrichtenmagazins. Fantasie, Beharrungsvermögen, Widerspruchsgeist, Improvisation und Chuzpe – diese Mischung wird den Journalismus im Nachkriegsdeutschland prägen. Und doch: Augstein und sein erstes Team sind Deutsch-Nationale. Geläuterte NS-Journalisten wollen, sie können die Weltkriegsgeneration nicht verurteilen. Denn sie gehören ihr an.“


Harry Bohrer arbeitete vor seiner Flucht 1939 nach Großbritannien als Angestellter in einer tschechischen Glasfabrik. Offiziell ist er auch gar nicht Chefredakteur, aber amtiert praktisch als solcher. So beschreibt Peter Merseburger diesen Exilanten in seiner Biografie „Rudolf Augstein“. Und weiter: „Noch heute muss rätselhaft erscheinen, woher Bohrer, der nie Journalist gewesen ist, Wissen und Mut dazu nahm. Gibt er, wenn er seinen jungen Eleven einbläut, nach angelsächsischer Manier in Interviews beinhart zu fragen, einfach die Bewunderung weiter, die der Emigrant aus Mitteleuropa beim Lesen der englischen presse empfand? Er kommt aus einer jener jüdischen Familien Prags, die fließend Deutsch und Tschechisch sprachen, auch nach dem Zusammenbruch der K.u.K.-Monarchie dem deutschen Kulturkreis verhaftet blieben.“


Diese „deutsche Kultur“, die doch zugleich auch eine abendländische Kultur ist, hat er verinnerlicht als Pennäler auf jenem Gymnasium in Prag, wo einst auch Franz Kafka Schüler war. Das ist die Wurzel seiner Bildung und die wiederum bildet die Basis seines Engagements für ein intelligentes, kritisches Nachrichtenmagazin, für das sonst alle Voraussetzungen fehlen: Richtige Räume – Bohrer requiriert sie in Hannover -, Schreibmaschinen – Bohrer „organisiert“ sie unter großen Schwierigkeiten. Selbst Stühle fehlen und später auch die Lizenzgebühr von 30.000 Reichsmark. Das Trio Ormond, Bohrer und John Chaloner besorgt das Geld über den Verkauf von Zigaretten und ähnlichen Tauschobjekten, die für die Deutschen nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen waren. Der britische Major Chaloner ist der eigentliche Urheber der Karriere von Augstein und damit auch des „SPIEGEL“. Merseburger schreibt in seinem Augstein-Buch von einer „Laune des britischen Majors“. Er wollte eine Zeitschrift in Deutschland nach dem Vorbild der amerikanischen „Time“ und der britischen New Review“.
Als Harry Bohrer 1947 in sein Gastland Großbritannien zurückkehren muss, besorgt ihm John Chaloner eine Anstellung als Redakteur beim „West London Cronicle“. Rudolf Augstein, der sonst eher kühle, distanzierte Mensch, der sich selbst als Zyniker bezeichnete, hat über seinen journalistischen Ziehvater, der doch nur unwesentlich älter war, gesagt: „Bohrer habe ich nicht nur gemocht, sondern beinahe geliebt.“


Autor:

Hajo Jahn

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