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Exil

H.A.M. 0

Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit

Gegen meine Gewohnheit und vom Thema «Heimat und Heimatlosigkeit» gelenkt und verleitet, habe ich diesmal vor, das Geheimnis meiner Heimatlosigkeit ein wenig zu lüften. Ich bin gebürtiger Prager, und meine Ahnen scheinen seit über tausend Jahren in der Goldenen Stadt gewohnt zu haben. Ich bin Jude, und der Satz «Nächstes Jahr in Jerusalem» hat mich seit meiner Kindheit begleitet.


Ich war jahrzehntelang an dem Versuch, eine brasilianische Kultur aus dem Gemisch von west- und osteuropäischen, afrikanischen, ostasiatischen und indianischen Kulturen zu synthetisieren, beteiligt. Ich wohne in einem provenzalischen Dorf und bin ins Gewebe dieser zeitlosen Siedlung einverleibt worden. Ich bin in der deutschen Kultur erzogen worden und beteilige mich an ihr seit einigen Jahren. Kurz, ich bin heimatlos, weil zu zahlreiche Heimaten in mir lagern. Das äußert sich täglich in meiner Arbeit. Ich bin in mindestens vier Sprachen beheimatet und sehe mich aufgefordert und gezwungen, alles Zu-Schreibende wieder zu übersetzen und rückzuübersetzen.


Was unterscheidet den Emigranten vom Flüchtling? Der Flüchtling ist, positiv und negativ, der verlassenen Bedingung verhaftet. Er schleppt sie auf seiner Wanderung mit sich, und zwar in einer Mischung von Ressentiment und Liebe. Der Emigrant hat sich über die verlassene Bedingung erhoben. In dieser seiner Empörung kann er aus ihr herausheben, was er will, und anderes kann er verwerfen. Was unterscheidet den Immigranten vom Flüchtling? Der Flüchtling, eingekapselt in die verlassene Bedingung, wie er ist, ist der neuen verschlossen. Er hat ihr weder etwas zu geben noch von ihr etwas zu nehmen. Der Immigrant steht der neuen Bedingung teilweise offen, nämlich an den Stellen, an denen die verlassene Bedingung ironisch verworfen wurde. An diesen Stellen kann er die neue Bedingung sich assimilieren und sich der neuen Bedingung assimilieren.


Wir, die ungezählten Millionen von Migranten (seien wir Fremdarbeiter, Vertriebene. Flüchtlinge oder von Seminar zu Seminarpendelnde Intellektuelle), erkennen uns dann nicht als Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft. Die Vietnamesen in Kalifornien, die Türken in Deutschland, die Palästinenser in den Golfstaaten und die russischer. Wissenschaftler in Harvard erscheinen dann nicht als bemitleidenswerte Opfer, denen man helfen sollte, die verlorene Heimat zurückzugewinnen, sondern als Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut, folgen sollte. Allerdings können sich derartige Gedanken nur die Vertriebenen, die Migranten, nicht aber die Vertreiber, die Zurückgebliebenen erlauben. Denn die Migration ist zwar eine schöpferische Tätigkeit, aber sie ist auch ein Leiden. Wie ja bekannterweise das Tun aus dem Leiden emportaucht («Wer nie sein Brot mit Tränen aß…»).


Die Heimat ist zwar kein ewiger Wert, sondern eine Funktion einer spezifischen Technik, aber wer sie verliert, der leidet. Er ist nämlich mit vielen Fasern an seine Heimat gebunden, und die meisten dieser Fasern sind geheim, jenseits seines wachen Bewusstseins. Wenn die Fasern zerreissen oder zerrissen werden, dann erlebt er dies als einen schmerzhaften chirurgischen Eingriff in sein Intimstes. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder den Mut aufbrachte zu fliehen), durchlebte ich dies als einen Zusammenbruch des Universums; denn ich verfiel dem Fehler, mein Intimstes mit dem Öffentlichen zu verwechseln. Erst als ich unter Schmerzen erkannte, dass mich die nun amputierten Fasern angebunden hatten, wurde ich von jenem seltsamen Schwindel der Befreiung und des Freiseins ergriffen, der angeblich den überall wehenden Geist kennzeichnet. Im London des ersten Kriegsjahres, in diesem für Kontinentale chinesischen England, und unter Vorahnungen des kommenden Entsetzens der Menschlichkeit in den Lagern erlebte ich damals die Freiheit. Das Umschlagen der Frage «frei wovon?» in «frei wozu?», dieses für die errungene Freiheit charakteristische Umschlagen, hat mich seither in meinen Migrationen wie ein «Basso continuo» begleitet. So sind wir alle, wir aus dem Zusammenbruch der Sesshaftigkeit emportauchenden Nomaden.


Es sind zumeist geheime Fasern, die den Beheimateten an die Menschen und Dinge der Heimat fesseln. Sie reichen über das Bewusstsein des Erwachsenen hinaus in kindliche, infantile, wahrscheinlich sogar in fötale und transindividuelle Regionen; ins nicht gut artikulierte, kaum artikulierte und unartikulierte Gedächtnis. Ein prosaisches Beispiel: Das tschechische Gericht «svickova» (Lendenbraten) erweckt in mir schwer zu analysierende Gefühle, denen das deutsche Wort «Heimweh» gerecht wird. Der Heimatverlust lüftet dieses Geheimnis, bringt frische Luft in diesen gemütlichen Dunst und erweist ihn als das, was er ist: der Sitz der meisten (vielleicht sogar aller) Vorurteile – jener Urteile, die vor allen bewussten Urteilen getroffen werden.


Das in der Prosa und Dichtung gerühmte und besungene Heimatgefühl, diese geheimnisvolle Verwurzelung in infantilen, fötalen und transindividuellen Regionen der Psyche, widersteht der nüchternen Analyse nicht, zu welcher der Heimatlose verpflichtet und befähigt ist. Zwar, zu Beginn dieser Analyse, nach dem Verlassen der Heimat, ergreift das analysierte Heimatgefühl die Gedärme des Sichselbst-Analysierenden, als ob es sie umstülpen wollte. Das deutsche Wort «Heimweh» oder das französische «nostalgie» erfasst dies weniger gut als das portugiesische «saudade». Aber nach dem erwähnten Umschlagen der Vertriebenheit in Freiheitstaumel, der Frage «frei wovon?» in die Frage «frei wozu?», wird die geheimnisvolle Verwurzelung zu einer obskurantischen Verstrickung, die es jetzt wie einen gordischen Knoten zu zerhauen gilt. Der Sich-selbst-Analysierende erkennt dann, bis zu welchem Maß seine geheimnisvolle Verwurzelung in der Heimat seinen wachen Blick auf die Szene getrübt hat. Er erkennt nicht etwa nur, dass jede Heimat den in ihr Verstrickten auf ihre Art blendet und dass in diesem Sinn alle Heimaten gleichwertig sind, sondern vor allem auch, dass erst nach Überwindung dieser Verstrickung ein freies Urteilen, Entscheiden und Handeln zugänglich werden. In meinem Fall: Nach dem Zerhauen eines gordischen Knotens nach dem anderen, des Prager, des Londoner, des Paulistaner, habe ich nicht nur die Gleichwertigkeit (oder auch Gleichunwertigkeit) aller dort angesiedelten Vorurteile erkannt, und vorwegnehmend auch die der in Robion angesiedelten, sondern vor allem auch, dass meine Freiheit zu urteilen, mich zu entscheiden und zu handeln mit jedem Zerhauen zunimmt. Diese Erkenntnis erlaubt, mit sich immer verbessernder Virtuosität die Knoten, einen nach dem anderen, zu zerhauen. Die Emigration aus Prag war ein fürchterliches Erlebnis, die aus Robion wäre wahrscheinlich nur noch die freie Entscheidung, sich ins Auto zu setzen und wegzufahren. Das ist der Grund, warum mir der Zionismus, trotz aller Sympathie, existentiell nicht zusagt.


Das geheimnisvolle Heimatgefühl fesselt an Menschen und Dinge. Beide sind sie in dieses Geheimnis gebadet. Ich glaube nicht, dass es nötig ist, von der Verderblichkeit eines geheimnisvollen Gefesseltseins an Dinge zu sprechen. Derart sakralisierte Dinge bedingen nicht nur (das heißt, sie schmälern die Freiheit), sondern sie werden personalisiert (das heißt, man liebt sie). Diese Verwechslung von Dingen und Personen, dieser ontologische Irrtum, ein Es für ein Du zu nehmen, ist genau das, was die Propheten Heidentum nannten und was die Philosophen als magisches Denken zu überwinden versuchten. Das geheimnisvolle Gefesseltsein an Menschen jedoch verdient, bedacht zu werden. Es stellt nämlich das eigentliche Problem der Freiheit.


Ich habe in dieser Hinsicht zwei Erfahrungen, die einander widersprechen. Alle Menschen, mit denen ich in Prag geheimnisvoll verbunden war, sind umgebracht worden. Alle. Die Juden in Gaskammern, die Tschechen im Widerstand, die Deutschen im russischen Feldzug. Alle Menschen, mit denen ich in Säo Paulo geheimnisvoll verbunden war, leben, und ich stehe mit ihnen in Verbindung. Paradoxerweise ist daher das Zerhauen des Prager gordischen Knotens leichter gewesen als das des Paulistaner, wiewohl das Geheimnis, das mich an Prag gebunden hatte, dunkler ist als das im Fall von Sao Paulo. Eine allerdings makabre Erfahrung.

 


Autor: Vilém Flusser
entnommen aus „du“, Heft Nr. 12, Dezember 19892 – „Nicht zuhause. Migranten der Literatur“ – Titel des Flusser-Beitrags. „Wohnung beziehen n der Heimatlosigkeit“

 

 



 

„…Meine eigene Lebensgeschichte ist geprägt von Europa, das in diesem Jahrhundert schreckliches Leid erfahren hat. Europa ist nicht nur die Wiege der westlichen Demokratie, sondern auch Schauplatz der tragischen totalitären Experimente – Faschismus und Kommunismus.


Ich war fünf Jahre alt, als ich im Jahr 1941 Rumänien verlassen musste, von einem Diktator und einer Ideologie in de Tod geschickt. Im Jahr 1986, nun fünfzig geworden, musste ich, gleichsam einer ironischen Symmetrie folgend, wieder fliehen wegen eines anderen Diktators und einer anderen Ideologie.
Holocaust, Totalitarismus, Exil – diese fundamentalen Erfahrrungen unserer Zeit, sie alle sind eng verbunden mit einer bestimmten Definition des Fremden und der Entfremdung.


Die nationalsozialistische Doktrin verkündete ein totalitäres, zentripetales Modell, ausgerichtet auf das Ideal der reinen Rasse, und den nationalsozialistischen Staat als Verkörperung des Willens zur Macht. Diese Idee fand viele Befürworter und Anhänger, immerhin kam der Nazismus durch freie Wahlen an die Macht und herrschte aufgrund einer relativen Deckung von Ideal und Wirklichkeit. Der nationalsozialistische Staat verkörperte die krasseste Negation des Fremden und die brutalste Aggression gegen den Fremden. Der Fremde war ein verdächtiger Zeitgenosse mit «unreinen» Wurzeln und gefährlichen Ansichten und somit die dämonische Verkörperung des Bösen. Die grundlegenden Voraussetzungen
des Menschseins wurden plötzlich mit einem dunklen Fragezeichen versehen. Der Holocaust hat nicht nur die Begriffe einer Debatte über Assimilation und Fremdsein revidiert, sondern auch, wie es Saul Bellow mit düsterer Präzision formulierte, wieder die alte Frage aufgeworfen, an was man sich assimilieren sollte. An was sollte man sich assimilieren, wenn in einem der zivilisiertesten Länder die «Endlösung» als einzige und finale Assimilation angeboten wurde?


Und an was könnte man sich assimilieren, wenn man, wie durch ein Wunder, das überlebt hat, was heute konventionell oder sogar kommerziell als Holocaust bezeichnet wird? An was soll sich ein Fremder, der die Hölle überlebte, assimilieren?
Die Antwort auf diese Frage ist erstaunlich einfach und naheliegend: an das Leben, und nichts als das Leben. Der Überlebende passt sich wieder an das Leben an und versucht zu leben, mit jener impertinenten Banalität wie das Leben selbst. Die Rückkehr, die Wiedergeburt und die Wiederanpassung an die elementarsten Lebensumstände sind sowohl pathetisch als auch geheimnisvoll, sowohl bedauernswert als auch großartig.


Mir war es bestimmt, in einer Gesellschaft wiedergeboren zu werden, aufzuwachsen und heranzureifen, die auf eine byzantinische Art und Weise Faschismus und Stalinismus verband.
Der Kommunismus, der eine humanistische Fortschrittsvision postulierte, kam durch Revolution an die Macht und hielt sich mit Gewalt an der Macht. Als sich der Gegensatz zwischen Idee und Realität verschärfte, als das Verbot, auf diesen Widerspruch hinzuweisen, darüber zu diskutieren, den Terror und wirtschaftlichen Bankrott noch verschärfte, entwickelte die kommunistische Gesellschaft eine Pathologie der Ambivalenz, in welcher Apathie, Heuchelei und Doppelzüngigkeit zu Grundregeln der Anpassung, das heißt der Entfremdung, wurden. Das zentripetale kommunistische System war nicht imstande, die alten Widersprüche – wie versprochen -aufzulösen, sondern fügte noch weitere hinzu. Die Frage des Fremden in einer Gesellschaft, die an sich alle ihre Mitglieder entfremdet und gleichzeitig alle zwingt, sich in ihrer eigenen Entfremdung zu akkomodieren, versteckt sich hinter zweifelhaften und unheimlichen Masken. Die heutigen nationalistischen und extremistischen Ausbrüche in den ehemaligen kommunistischen Staaten erscheinen nur jenen überraschend, die nicht selber die Atomisierung einer Gesellschaft erfahren haben, in der die Erziehung zur Doppelzüngigkeit schon in der Wiege begann.


Bertolt Brecht betrachtete das Exil als «die beste Schule der Dialektik». Und in der Tat wird der Exilierte, der Flüchtling, in der Folge von Veränderungen zum Fremden. In seiner ganzen Existenz ist der Fremde ständig gezwungen, über Veränderungen nachzudenken.
In Berlin, in meinem ersten Jahr im Westen, befasste ich mich Tag für Tag mit der Frage der Entfremdung. Ich dachte nicht nur über das innere Exil nach, dem ich eben entkommen war, sondern auch über das Wesen des Exils an sich. Wieder einmal hatte ich den Eindruck, dass die Geschichte meine Hoffnungen und Aspirationen vereitelte und mich in ein Abenteuer hineinzwang, das ich nicht gewollt hatte.
In meinem ganzen Nachkriegsleben hatte ich auf dem Weg des Lesens und Schreibens nach einer inneren Widerstandskraft gegen den oft unerträglichen äußeren Druck gesucht. Es ist kaum zu glauben, dass das «Ich» in einer totalitären Gesellschaft überleben konnte, und doch war die Verinnerlichung eine Form des Widerstands, auch wenn dies zwangsläufig nur teilweise möglich war. Es fungierte als Zentrum unseres moralischen Seins, als Mittel der Distanzierung von der korrumpierenden Aggressivität der Umwelt, als Hoffnung, wie unsicher auch immer, für die Integrität unseres Gewissens. Selbst in einem totalitären Ambiente, wo der äußere Druck immer gefährlicher ist, und vielleicht gerade dort, ist das «Ich» der Ort des Zusammenpralls zwischen der zentripetalen Notwendigkeit, die geheime, verschlüsselte Identität zu bewahren, und der zentrifugalen Tendenz Befreiung.


Während der schmerzlichen Übergangszeit in Berlin wurde ich von Zweifeln und Fragen aus der Vergangenheit überwältigt. Und gerade deshalb, weil das in Berlin geschah, musste auch ich mich meiner Ethnizität stellen, da ich bereits in meinem Heimatland mit dem Schimpfwort «Fremder» konfrontiert worden war und daher, was meine missliche Lage betraf, schon genug Vorinformation hatte. Und gerade weil der Wunsch nach einer Heimat bei jenen besonders akut ist, deren Zugehörigkeit zu einer solchen in Frage gestellt wird, schmerzt sie der Verlust besonders. An der Schwelle eines lebenswichtigen Entschlusses, angesichts einer neuen, vielleicht endgültigen Entwurzelung, musste ich mich wieder einmal fragen, wer ich eigentlich sei.


Während meines Aufenthalts in Berlin wurde mir von den deutschen Behörden oft geraten, aufgrund meiner Geburt in der Bukowina und meiner deutschsprachigen Abkunft die Anerkennung meiner deutschen Ethnizität zu verlangen. Viele meiner Landsleute hatten das getan und hatten sich in ihrer neuen Staatsbürgerschaft bereits bequem eingerichtet. Ich hätte um die deutsche Staatsbürgerschaft ansuchen können, wie viele meiner ehemaligen Nachbarn und Kollegen aus Suceava, der Region namens Buchenland, es getan hatten. Buchenland, das Land der Buchen, obwohl auch Land der Bücher passend gewesen wäre, denn es ist wohl kein Zufall, dass der größte deutsche Dichter des letzten halben Jahrhunderts der in der Bukowina geborene Paul Celan war.
Indessen kam mir damals eine Geschichte zu Ohren, die mich veranlasste, mir das Ganze noch einmal zu überlegen.


Eine bekannte deutschsprachige Schriftstellerin, die gerade legal nach Westdeutschland eingewandert war, fand sich bei der Einwanderungsbehörde mit einem Beamten konfrontiert, der für seine Landsleute aus dem Ausland sichtlich keine besonderen Sympathien hegte. «Wir haben Ihre Erklärungen im Fernsehen gesehen, Madame», sagte der Beamte, während er ihre Einwanderungsakte studierte. «Sie haben Rumänien verlassen, weil es eine Diktatur ist. Sie haben in der deutschen Presse wilde Angriffe gegen die rumänische Diktatur gerichtet. Stimmt das?» «Ja, das stimmt», entgegnete die Autorin. «Dann ist es also klar, dass sie aus politischen und nicht aus ethnischen Gründen nach Deutschland auswanderten», erklärte der Beamte. «In diesem Fall», fügte er in barschem Ton hinzu, «müssen Sie ins benachbarte Büro gehen und dort um politisches Asyl ansuchen.» Das war ein erstaunlicher bürokratischer Trick, gegen dessen absurde, aber unangreifbare Logik man schwer ankämpfen konnte, die aber noch schwerer zu begreifen war. Die deutschsprachige Autorin, die als solche sowohl in Rumänien als auch in Deutschland bekannt war, wo auch ihre Bücher publiziert wurden, war natürlich auch eine erklärte Gegnerin des tyrannischen Regimes in Rumänien. Sie war schließlich gezwungen gewesen, ihre Heimat zu verlassen und um die Aufnahme in ihrem neuen Vaterland anzusuchen. Völlig verstört zog die Autorin tagelang durch Berlin und berichtete Freunden von ihrem Abenteuer. Schließlich kehrte sie wieder zu demselben Beamten im Einwanderungsbüro zurück. «Ich beantrage nicht politisches Asyl, sondern die Zuerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft», verkündete sie trotzig. «Ich bin Deutsche und fordere, dass dieses Faktum anerkannt wird. Ich verfüge über eindeutige Beweise. Ich bin Deutsche, mein Vater war Mitglied der SS.» Der zögerliche Beamte blieb zunächst stumm und meinte dann stotternd: «In diesem Fall, selbstverständlich.»


Ich für meinen Teil hätte den deutschen Behörden keine ähnlichen Beweise vorlegen können. Indessen beunruhigte mich diese Geschichte insofern, als sie der Frage der Identität plötzlich einen völlig neuen Aspekt verlieh.
Der Begriff Heimatland enthüllt seine ambivalente Bedeutung vor allem im Verlauf gewaltsamer Zerreißproben, die die Notwendigkeit der Selbstprüfung dringlicher und intensiver werden lassen. Die Welt der Entfremdung beinhaltet auch eine Entfremdung vom Selbst und nicht bloß von den anderen im Exil im einfachsten, alltäglichen Sinn wie auch in der reinsten, transzendenten Form.


Wir könnten nun fragen, warum ich, immer noch schmerzerfüllt und verwirrt, entsetzt über die Unvermeidlichkeit des Exils, an der Berliner Mauer entlangtaumelte.
War es die Angst vor der Freiheit? Für den reifen Erwachsenen schafft das Exil spät noch die Voraussetzungen für neuen Beginn und neues Leben; die eigene Vergangenheit wird wieder in Frage gestellt. Zudem erwachen in den frühzeitig Traumatisierten durch das Exil alle alten, versteckten Ängste. Von der Psychose des Provisorischen belastet, fürchten sie, einmal mehr in das Chaos des Unbekannten zu stürzen.
Der Schriftsteller, immer ein «Verdächtiger», wie Thomas Mann sagte, ein Exilierter par excellence, erobert sein Heimatland, seine Plazenta, mittels der Sprache. Wenn man indessen auch aus diesem letzten Refugium ausgestoßen wird, dann bedeutet das eine mehrfache Enteignung, den brutalsten und unumkehrbaren Verlust der eigenen Mitte und damit ein tragisches Ende. Primo Levi sagte im Zusammenhang mit dem Lager: «Wenn man das Verschwinden des Wortes akzeptiert, dann signalisiert das die Ankunft der finalen Gleichgültigkeit.»


Das ist der Grund, warum ich im Frühjahr 1989, bei meinem ersten Zusammentreffen mit einer amerikanischen literarischen Persönlichkeit, mit der uns später eine enge Freundschaft verbinden sollte, hochtrabend erklärte: «Für mich hat eben ein neuer Holocaust begonnen.» Da war nun ein Brennen, das bis in das Zentrum des Seins, die Sprache, hinabreichte, in die unauslotbare Tiefe des Schöpferischen.
Fünf Jahre sind nun vergangen, seit ich dieses Brennen spürte, und ich muss gestehen, dass ich jetzt nicht mehr nur den Fluch, sondern auch das Privileg verspüre, im Exil zu sein. Ich habe schließlich diese Ehre akzeptiert und tat dies im Namen all dessen, was Leiden und Epiphanie bedeutet, im Namen der Einsamkeit und der Herausforderung, im Namen aller Zweifel und der niemals endenden Lehrzeit, die dies bedeutet, im Namen der Leere und der Fülle, der Entfesselung meiner selbst und des Konflikts mit mir selbst. Und auch im Namen der Wunden der Freiheit.
Wenn ich die Kraft habe, Dante nachzuleben, der sagte: «L’esi-lio, ehe m’e dato, onor mi tengo» (Ich halte das mir zugewiesene Exil in Ehren), dann befinde ich mich wahrscheinlich im Einklang mit unserem zentrifugalen Jahrhundert.

Obschon sich die osteuropäische Bühne von der offziellen Maskerade befreit hat und ihr der Kampfesgeist des sozialistischen Untergrunds fehlt, ist sie heute lauter und widersprüchlicher denn je; neue Schauspieler, neue Szenarios und ein neues Maskenspiel drängen sich auf ihr. Eine dramatische, ekstatische und verblüffende Inszenierung der ganzen menschlichen Tragikomödie.


Zersplitterung und Zerstreuung, insgesamt alles zu schnelle Umstellungen und zerstörerische Ausschreitungen, können einen falschen Eindruck der Leere und Reglosigkeit erwecken. Das Einparteiensystem hat seine Untertanen und ihren Überlebensdrang geeinigt, ob er auf Opportunismus oder das Gegenteil, die Gefahr der Konfrontation, angelegt war.
Der kommunistische Osten hat damals auch den Westen mit seinem Überlebensdrang geeinigt, ob er nun auf Kompromisse und sogar Komplizenschaft angelegt war oder auf Opposition.
Ein entschiedenes Verbot im Paradies war das des Schöpfers, des Zensors verbotene Frucht. Die Bibel nennt dieses erste Tabu den «Baum der Erkenntnis». Beschaulich und unterwürfig, wenn nicht gänzlich apathisch, hätte der Mensch für immer im schlummernden Königreich des äußeren Scheins bleiben können; aber das hätte ihn vernichtet. Es hätte den Tod bedeutet oder, schlimmer noch, die ungeheuere Sinnlosigkeit.


Die Reise ins Unbekannte und Widersprüchliche, der Imperativ, die Welt und sich selbst zu erkennen – das Erwachen des Bewusstseins -, bedeutete Individualität, den individuellen Ausdruck von Freiheit und Verantwortung. Sich der einzigen und höchsten Autorität zu widersetzen bedeutete die Vertreibung aus dem Himmel, aus Utopia.
Auf das Wagnis, frei zu werden, folgte naturgemäß eine Identitäts- und Zugehörigkeitskrise; eine Krise der Selbstdefinition, die den eigentlichen Akt des Riskierens hätte einschließen sollen und darüber hinausgehen. Mit sich selbst und der Welt alleingelassen, sterblich, also real, musste der Mensch sein tägliches Brot im Schweiße seines Angesichts» verdienen. Der Mensch musste aktiv, rational und pragmatisch werden, um die Krise, augenfällig auch die erste ökonomische Krise, zu überwinden.
Aber bald brauchte es eine moralische Orientierung, um d: Menschheit vor der ursprünglichen Grenzenlosigkeit ihres Kampfes zu retten. In dieser Hinsicht sind die Zehn Gebote nicht nur moralische Appelle, sondern auch soziale Regeln. Anders als das erste und einzige Verbot brachten diese Regeln Diversifikation und Differentiation, weil sie die Beziehungen zwischen Menschen betreffen und nicht ihre Beziehung zu einer einzigen und höchsten äußeren Autorität. Als Basis für die Beziehungen zwischen allen Menschen ungeachtet ihres Ranges oder ihrer Herkunft drückten sie den Beginn einer demokratischen Entwicklung aus.


Die biblische Erzählung bietet uns die erste Vision des Menschen – oder des westlichen Menschen – von sich selbst und von Gott, je gespiegelt im Bild des anderen. Aber Geschichte ist die Geschichte des menschlichen Wagnisses. Sie berichtet von den «Riskierern», die sich durch jede ihrer Taten definieren und ihre Identität erwerben. Es ist kein Zufall, dass wir in Osteuropa – wc ein Übergang weg von der trägen Unterwerfung stattfindet – nicht nur eine Identitätskrise beobachten, sondern auch, und zu oft, ein Verlangen, sich mit neuen Mythen zu identifizieren.
Dieses Verlangen nach neuen Mythen bedeutet ein Verlangen nach einem äußeren seelischen Schutz vor der herrschenden Verwirrung, vor der Einsamkeit und dem fiebrigen Überlebens- und Machtkampf. Das gilt auch für den Westen. Von äußeren Feinden befreit, hat der Westen endlich die Gelegenheit, seine eigene Krise zu analysieren. Die Krise innerhalb der Regeln, die das Zusammenleben von Menschen und von Mensch und Natur bestimmen. Wir leben in einer Welt, in der Freiheit und Verantwortlichkeit immer wieder neu definiert und erlangt werden müssen. Eine Welt der diesseitigen Relativität, in der die Uniformität der Massen und die Entpersönlichung oft als Folge der «Demokratisierung», der Kultur der Massenmedien, erscheinen. Eine globale postindustrielle, vielleicht schon postmoderne Gesellschaft.


Was ist diese Neue Welt, zu der die von Utopias Unterdrückung Befreiten blicken, ein Utopia, das unablässig die Neue Welt versprochen hat? Die westliche Welt ist nicht das Paradies, das sich diejenigen vorgestellt haben, die unter Demokratie nur Wohlstand, Komfort und freien Willen verstehen; sie ist eine menschliche Welt, beides unvollkommen und vollkommenbar, so wie das Inferno der Tyrannei nur ein anderes menschliches Produkt war, von Menschen ausgedacht, aufgebaut, durchlitten und herausgefordert. Wir können die Vorteile und Gefahren, die Chancen und Mängel unserer schnellebigen Welt nicht erkennen, ohne die Menschen zu betrachten, die sie mit ihren Wünschen, Mythen und Verwirrungen bevölkern. Und vielleicht gibt es niemand, der die Unterschiede zwischen beiden Welten besser kennt als der Exilierte.
Der Exilierte aus dem Osten ist ein Versuchskaninchen, ein Vorläufer, ein Pionier des Experimentes, das die Länder aus diesem Teil Europas gerade beginnen.


Wie Adam hat der Exilierte die Euphorie und die Angst der Freiheit, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und den Schock der Entfremdung durchlitten. «Im Schweiße seines Angesichts» ist er aus der Anonymität und dem Trauma des Unbekannten wiedergeboren worden. Schritt für Schritt, Neurose nach Neurose hat er ein tieferes Verständnis der Welt und des anderen erlangt, einen strengeren Sinn für Verantwortlichkeit, ein durchdringenderes Bewusstsein des Todes, also der Realität. Er hat ein lebendigeres, klareres Verständnis für das Ephemere, die Begrenzung und die Grenzenlosigkeit. Er ist der «Riskierer», der endlich das Leiden, die Ehre und die Privilegien des Exils akzeptiert hat.


Man könnte sagen, dass der Exilierte eine Art Experte für den Übergang wird. Ein Entfremdeter, mit abgebrochenen Verbindungen zu beiden Welten, sich ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten bewusst, der Spannung ihres Dialogs, der Gefahren, die sie beide an diesem Scheideweg der Geschichte bedrohen. Der Riskierer wurde wegen seines Wissens und Bewusstseins aus der paradiesischen Trägheit der Konvention geworfen. Das Wesen, das sich durch das Risiko der Individualisation definiert – und Kunst ist die eigentliche schöpferische Exponentialfunktion des Risikos, der schöpferischen Freiheit -, bleibt in hohem Masse verletzlich.
Verletzlich und widersprüchlich, ist der Mensch indes auch durch einen stets alerten Selbsterhaltungsinstinkt definiert. Selbsterhaltung einerseits – und das Bedürfnis nach dem Wagnis anderseits haben schon immer unsere Existenz bestimmt. Die Spannung zwischen dem angeborenen Selbsterhaltungstrieb und dem kompromisslosen Drang zum Risiko ist in den Kontrasten des Übergangs am offensichtlichsten. Zum Beispiel des gegenwärtigen Übergangs zur Moderne in Osteuropa; oder des jetzigen Übergangs in ein neues Jahrtausend, worauf sich unser gefährdeter Planet zur Zeit vorbereitet.
Der Schriftsteller im Exil versteht diesen Widerstreit, weil er ihn selbst erlebt hat und ihn täglich meistert. Für ihn ist die Neue Welt zur Bühne der ganzen Welt geworden, die Bühne all seiner Mitmenschen aus allen Erdteilen, die so verschieden und doch so ähnlich sind.
In diesem Jahrhundert ist das Exil selbst ein Emblem geworden, ob es jemand in seinem eigenen Land, seinem Zimmer und seiner Sprache erfährt oder außerhalb und weit weg. Ungeachtet der Geschichte und Geographie ist der Moment, den wir erleben, konvulsivisch. Wir sind alle im Exil.


Autor: Norman Manea

 

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