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Hilberg, Raul

H.A.M. 0

Raul Hilberg
Historiker und Holocaust-Forscher


Geb. 2.6. 1926 in Wien/ Österreich
Gest. 4.8. 2007 in Williston, Vermont/ USA


Was einer wird, ist oft ebenso spannend wie die Frage, warum er es geworden ist. In seinem zuerst auf Deutsch erschienenen Buch Unerbetene Erinnerung schildert der Autor seinen Weg eines Holocaustforschers (Untertitel). Wer Hilberg als Autor von Täter, Opfer, Zuschauer (1992) oder Die Vernichtung der europäischen Juden (1961) und Die Quellen des Holocaust (2002) kennt, dürfte neugierig sein, wie er wurde was er ist. Denn an der Wiege ist ihm das sicher nicht gesungen worden. Die Kindheit in der österreichischen Hauptstadt ist nicht religiös ausgerichtet, vielleicht sogar von einer leichten Abneigung geprägt, während (oder weil?) der Vaters ihm Verständnis für Hebräisch und Judentum beizubringen versucht.


Haimo L. Hand schreibt in seiner Rezension (Volksstimme 4/1995) über die Autobiographie: „Früh schon die Begeisterung für Musik. Ein Satz zu seiner Kindheit liest sich wie die Verbalisierung eines surrealistischen, philosophischen Bildes von Magritte: Bevor ich zum Atheismus fand, malte ich mir aus, nach einem ziemlich langen Leben weiter mit Zügen zu fahren – unsichtbar, als Geist oder Seele, ohne Fahrkarten lösen oder Plätze reservieren zu müssen.’ Der Zug, die Fahrt: Metaphern des Abschieds, der Veränderung, des Niedergangs, des Untergangs. Später wird Claude Lanzmann, mit dem Hilberg zusammentreffen wird, den Zug als film-rhetorisches Mittel in seiner berühmten Dokumentation über die Shoah einsetzen, einem Film, der Hilberg außerhalb den USA einem breiteren Publikum mit gewichtigen Aussagen näher bringt.


1939 fliehen die Hilbergs mit dem Zug über Deutschland, Frankreich, Kuba nach den USA. Wenige Sätze aus der Frühzeit seiner amerikanischen Ankunft lassen erahnen, wie es für einen Flüchtling seiner Art gewesen sein muß: ‚Als wir den Süden (der USA) durchquerten, sah ich dort Bänke mit der Aufschrift Für Farbige. So dachte ich darüber nach, daß ich, dem Wiener Parkbänke mit dem Hinweis Nur für Arier verboten waren, mit einem Schlag besser dastand als viele gebürtige Amerikaner.’ Die Schulen empfindet er ’unerträglich autoritär. Dazu war der Sportunterricht grauenhaft, zerstörte das Mindestmaß an Würde und Scham. Naturwissenschaftliche Fächer und Mathematik wurden unterrichtet, um Genies heranzuzüchten – und die Unbegabten auszusieben.’


Die Schilderung zeigt einen verdeckten Kern des latenten Faschismus, wie er dem Kapitalismus eigen ist. Viele Emigranten konnten und wollten das nicht übersehen und ihre Probleme mit dem Gastgeberland waren enorm. Viele weigerten sich allerdings angesichts der Konfrontation mit den nationalsozialistischen Faschisten die faschistoiden Grundlagen des kapitalistischen System anzuerkennen, weil es die Möglichkeit der Positionierung gegenüber den Nazis erschwert hätte, nicht zu sprechen von den Problemen im Gastland. Hilberg tritt in die Armee ein, kommt nach Deutschland. Er beobachtet, sammelt Eindrücke und zeichnet auf. In Kisten verpackt findet er Hitlers Privatbibliothek.


Zurückgekehrt wendet er sich dem Studium der Politikwissenschaft zu, mit einer starken historischen Ausrichtung. An der Columbia University, bei Franz Neumann, dem Autor des berühmten Behemoth wurde er Dissertant. Hilberg hatte ‚beschlossen, über die deutschen Täter zu schreiben. Die Judenvernichtung war ein deutsches Werk, ausgedacht in deutschen Amtsstuben, in einer deutschen Kultur.’ Hilberg sah die „Judenvernichtung nicht zentral gelenkt“. Weil der Täter den Überblick hatte, mußte er der Täterperspektive folgen. Diese Haltung sollte später zum Problemfall für ihn werden. Hilberg schildert trocken, wie er sich verdingte, immer seine Studien und Forschungen weiterführte, die finanziellen Engpässe zu meistern versuchte. Er geht auf seine Arbeitsweise ein und es wird deutlich, daß er seine Forschung wie die Arbeit eines Archäologen sah und eines Musikers: Formgefühl und den Willen, die disparaten Teile in ein sinnvolles Gefüge zu bringen, die Teile zum Sprechen zu bringen. Dokumente waren für ihn nie Einzelwerte, immer stellte er den Kontext her, suchte nach den Verbindungen, baute das Netzwerk auf, innerhalb dessen Bedeutungen sich erst generieren. Eine semiotische Arbeit. Seine Devise „Vollständigkeit plus Masse“ war nicht Ausdruck einer Sammlersucht, eines empirischen Datenfetischismus, sondern folgte der Einsicht seiner Arbeitsweise, daß zur Derivation der Sinn- und Bedeutungsgehalte dessen, was später Holocaust genannt wurde, so viel Daten wie möglich in Bezug gesetzt werden müssen, um sich eben nicht mit übergeordneten, außergewöhnlichen Einzeldaten abzuspeisen. Weil er die Verstrickung gesellschaftlich und nicht einzelpersönlich sah, richtete er sein Augenmerk auf das organisierte Ganze, wie es sich in Systemen und Subsystemen dem analytischen Blick darbot. Daß dabei die Rolle der Opfer, der Juden, in einer Weise dokumentiert, beschrieben und bewertet wurde, die nicht dem Selbstbild der Nachkommen entsprach, lagt auf der Hand und wurde später auch schmerzlich unter Beweis gestellt.


Seine wissenschaftliche Arbeit und Ausrichtung sah er dabei nicht abgehoben und einseitig. Ja, die Grundauffassung war eine künstlerische: „Wer den Holocaust erfassen will, sagte mir Claude Lanzmann einmal, muß ein Kunstwerk schaffen, … denn dieser Nachvollzug sei an und für sich ein Schöpfungsakt. Jeder Künstler bemächtigt sich der Wirklichkeit, ersetzt die rasch dahinschwindende Realität durch einen Text. So nehmen geschriebene Worte den Platz der Vergangenheit ein und werden dann anstelle der Ereignisse selbst erinnert. – Wie die Deutschen kein Modell für ihre Tat hatten, so hatte ich keines für meine Darstellung. Später wurde mir jedoch bewußt, daß ich mir ordnend und schreibend etwas aneignete: Es war keine Literatur, sondern eine musikalische Komposition.“


1956, dreißigjährig, nimmt er eine Dozentur an der Universität in Burlington (Vermont) an. 1955 war ihm ein Preis von der Columbia Universität für seine Dissertation verliehen worden mit der Aussicht auf Publikation. Mehrere Jahre zogen sich die Verzögerungen hin, bis dieser und andere Universitätsverlage absagten. Mit Hilfe von Freunden publizierte ein Privatverleger in Chicago schließlich die Arbeit. Die Reaktion des Fachpublikums war nicht sonderlich aufregend. Eine positive Besprechung von Hugh Trevor-Roper im jüdischen COMMENTARY löste allerdings Proteste und Verrisse aus; Trevor-Roper hatte die Enthüllungen über die Rolle der Opfer an ihrer eigenen Vernichtung als sehr überraschend’ hervorgehoben und gemeint, die würden den Lesern nicht gefallen.“


Für Haimo L. Hand lesen sich Hilbergs Sätze über die Ablehnung zu einer Publikation seitens der Gedenkstätte Yad Vaschem in Jerusalem „eindrucksvoll und symptomatisch. Hier zeigte sich bereits die verletzte Seite der Juden, die es nicht annehmen wollten, daß das Klischee vom tapferen jüdischen Widerstand, vom Heldentum, nicht bestätigt und unterstützt wurde. Die Schlußfolgerungen zur Disziplin, zur Wissenschaftspolitik, die eigentlich Politik ist, sind überdeutlich und erfahren gerade heute, wo sich wieder ein Datum zur ritualisierten Erinnerung aufdrängt (50 Jahre nach Auschwitz), vehemente Wirklichkeit: Leuten wie Hilberg, Arbeiten wie seiner, wird nicht aus faktischen Gründen ablehnend gegenübergestanden, sondern aus ideologischen, psychischen. Die Unreife vieler Beteiligten, die vordergründige politische Arbeit und die erhofften Erfolge danach ausgerichteter Strategien und Taktiken diktieren nicht nur einzelne Individuen, sondern scheinen auch die Arbeit etlicher Organisationen und Institutionen zu bestimmen: die Belege lassen sich an den jüngsten Publikationen, an der nicht zufälligen Auswahl bestimmter Artikeln in Fachzeitschriften als auch Zeitungen, in den vielen Reden und Beschwörungen ablesen. Wahrlich, keine gute Zeit für Leute, die wie Hilberg einen Begriff von Wahrheit haben, der eine gewisse Autonomie reklamiert.“


Das Grundproblem hatte Raoul Hilberg schon früher angesprochen: er sah in der Täterperspektive eine unabdingbare zum Verständnis der Vernichtung – die überlebenden Juden und ihre Nachkommen betonten aber die Opfersicht. Die hohe Bewertung der Oral History, die Wertschätzung der Augenzeugenschaft, half den anderen Blickwinkel zu vernachlässigen, abzuwerten. Die Angriffe gegen Hilberg, er ‚verunglimpfe das Andenken der Toten’ , sind nicht Vorwürfe gegen seine wissenschaftliche Arbeit, sondern gegen Schlußfolgerungen, die sich seinen Kritikern aufdrängen. Seine Arbeit stört als unbequeme anscheinend bestimmte Teile beider Seiten. Weil er auf die Täter einging, auf ihr weitverzweigtes System, behandelte er sie nicht als Unwesen oder Überwesen, sondern als Menschen. Das kollidiert(e) mit der Opfersicht, mit dem Bild des übermächtigen Barbaren. Hilbergs Haltung widersprach so vielen Stereotypen und Klischees von Juden und Israelis, daß deren Gegnerschaft nicht verwundert, wenn sie uns auch bedenklich und traurig stimmt“, mein Rezensent Hand. Und: ‚Der auf die Judenheit und jüdische Quellen verengte Blick geht mit einem dritten Gebot einher: Die jüdischen Opfer müssen als Helden erscheinen.’ Um den Heroismus herauszustellen, wurde der Widerstandbegriff so weit ausgedehnt, daß sogar Passivität, ja würdiges Sterben als Form von Widerstand interpretiert wurde. Daß mit solchen Konstruktionen auch die Nachkommenschaft der Täter ein willkommenes Werkzeug hat, ihrerseits Widerstand zu sehen, wo nur Passivität herrschte, liegt auf der Hand.


Hilberg hat sich nicht gescheut, einmal eingenommene Positionen als Historker zu korrigieren. Wissenschaft ist keine Apotheke für Tröstungspillen. Historie, wissenschaftlich verfaßt, ist kein Trostpflaster. Hilbergs Ausführungen zu seiner Wissenschaftsethik, zu seinem Verständnis von Wahrheit, weckte in mir unwillkürlich Erinnerungen an Ausführungen von Jean Amery (Unmeisterliche Wanderjahre oder Jenseits von Schuld und Sühne) und Erwin Chargaff (Abscheu vor der Weltgeschichte), um nur zwei Außenseiter zu nennen, die jeder auf ihre Weise, wie Hilberg, die Unerbittlichkeit erfahren und erleiden mußten, die jene trifft, welche nicht dem breiten Konsens, dem Allgemeinbild entsprechen. „Ironie des Zufalls, daß in der deutschen Nachkriegspolitik nur ältere Menschen an die Schalthebel der Macht gelang(t)en. Bundeskanzler Adenauer machte den Anfang nach Ende der Nazidiktatur, weil er unverdächtig war. Denn die Spitzenfunktionäre der NS-Vernichtungs-maschinerie ware jung, „auffällig jung“, wie es Hilberg in seinem dreibändigen Werk Täter, Opfer, Zuschauer analysierte. Sie waren nicht Männer der alten Zeit, sondern des neuen, des 20. Jahrhunderts. Hilbergs Ergebnisse erst öffneten die Augen dafür, wie viele der NS-Führungskräfte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Durchschnitt erst fünfundreißig Jahre alt waren. Thomas Medicus resümierte dazu am 6. April 2005 in der Frankfurter Rundschau am Ende eines Artikels über Hilberg: „Im Nu versteht man, warum der erste Bundeskanzler das Vertrauen auch seinem hohen Alter verdankte. Und tut sich nicht die neue Bundesrepublik mit jungen Führungskräften noch immer schwer? Jugend mag in der Welt des Pop wie des Sports ein Gütesiegel sein, der deutschen Politik wie intellektuellen Elite gilt sie hingegen wenig. Spitzenkräfte unter fünfzig sind hierzulande Paradiesvögel. Jugend als drohendes Geschichtsverhängnis? Die Zeit ist reif, Jugend, Radikalismus und Gewaltsamkeit voneinander zu entkoppeln.“


Quelle:

Raul Hilberg: Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers. Aus dem Amerikansichen von Hans Günter Holl. Fischer-Verlag, Frankfurt/ M. 1994 (Volksstimme 4/1995)

Bearbeitung: Hajo Jahn


Links (deutsch):

http://www.judentum.net/deutschland/hilberg.htm

http://www.perlentaucher.de/buch/11625.html

http://www.sehepunkte.historicum.net/2003/10/1317.html

http://www.dumjahn.de/pressemeldung_26.html


International:

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