Drücke „Enter”, um zum Inhalt zu springen.

Haffner, Sebastian

H.A.M. 0

Sebastian Haffner, eigentlich Raimund Pretzel
Journalist

Geboren am 27. Dezember 1907 in Berlin
Gestorben am 2. Januar 1999 in Berlin


sebastian_haffner.pngJournalist wurde der studierte Jurist aus Protest: Als die Nazis mit Reichskanzler Adolf Hitler 1933 an die Macht gekommen waren, verließ Dr. Raimund Pretzel angewidert den Staatsdienst. Die kompromisslose Ablehnung des Nationalsozialismus durchzieht das gesamte Leben dieses Unbequemen, der einen seiner größten Bucherfolge nicht mehr erleben konnte: Kurz nach seinem Tod  erschien die „Geschichte eines Deutschen – Erinnerungen 1914 – 1933″. Geschrieben hatte er sie hellsichtig im englischen Exil, doch veröffentlicht wurde sie erst sechs Jahrzehnte später in Deutschland. Dem Bestseller unterstellten böswillige Kritiker, nachträglich geschrieben worden zu sein, also nach dem Ende der NS-Diktatur. Kriminaltechnische Untersuchungen des Manuskriptpapiers und der Schreibmaschinentypen entlarvten die Angriffe als falsche Behauptungen.    


Nachdem er seinen Dienst quittiert hat, ist Raimund Pretzel bis 1936 als Rechtsanwalt vor Gericht tätig, meist in Vertretung anderer Kollegen. Doch die Justiz,  längst nicht mehr unabhängig, ist blind auf dem rechten Auge. Pretzels spätere Ehefrau Erika Hirsch* gilt den Nationalsozialisten als Jüdin. Sie kann Deutschland  im Juni 1938 verlassen. Er arbeitet inzwischen als Feulletonist für Frauenzeitschriften und für die Vossische Zeitung.
Im August 1938 geht auch Raimund Pretzel nach Großbritannien mit einem fingierten Auftrag des Ullstein-Verlags..


Er beginnt an einem Buch zu schreiben, „wie das Leben war in Deutschland“, aufgehängt „an meinen persönlichen Erlebnissen“. Damit habe er, wie Haffner zwei Jahre vor seinem Tod in einem Interview erklärte, den Engländern anschaulich machen wollen, wie die moderne Weimarer Republik mit ihren demokratischen Strukturen innerhalb kurzer Zeit zusammenbrechen konnte. Doch „dieses Manuskript liegt immer noch in einer Schreibtischschublade“. Er hat die Arbeit daran n ach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aufgegeben, „um etwas Systematisches zu schreiben, das „nützlich und wichtig ist“.
So entstand das 1940 in Großbritannien veröffentlichte Buch „German: Jekyll and Hyde“, eine im Gastland beachtete scharfsinnige Analyse deutschen Verhältnisse. Um seine Familienangehörigen in Deutschland nicht zu gefährden, legte er sich den Autorennamen Sebastian ( nach Johann Sebastian Bach) und Haffner (nach der „Haffner-Sinfonie“ von Mozart) zu, schrieb für das deutsche Exilblatt „Die Zeitung“ und später für den „Observer“ als Redaktionskollege von Isaac Deutscher, George Orwell und Richard Löwenthal.
Für den „Observer“ berichtet Haffner ab 1954 als Deutschlandkorrespondent aus Berlin. Als dort 1961 das DDR-Regime die Mauer baut, verlässt der eigenwillige, unangepasste Journalist Sebastian Haffner den „Observer“, dessen Haltung ihm in dieser Frage zu schwammig ist. Jetzt schreibt er für das „Flaggschiff“ des Springer-Konzerns, „Die Welt“. Diese Zeitung verlässt er jedoch bereits nach einem Jahr, weil ihm die Einstellung des Blattes in der SPIEGEL-Affäre zu lasch ist. Haffner, der deutsche Engländer, schreibt jetzt stattdessen im liberalen „Stern“, wo er eine Politik der Verständigung (mit  dem „Ostblock“) unterstützt und sich innenpolitisch auf Konfrontation zur langjährigen Regierungspartei CDU begibt. Er veröffentlicht er in der linken  Zeitschrift „Konkret“ seine „Monatslektüre“: Rezensionen über Bücher, die er für interessant hält. Es ist die Zeit des Umbruchs, der „APO“, der „Außerparlamentarischen Opposition“ der Studentenbewegung. Der Publizist sieht sie als demokratischen Katalysator. Die jungen Leute sind ihm in ihrem Engagement für Wahrheit und Demokratie sympathisch. Den „68ern“ stand Haffner jedoch auch nur zeitweise nahe. Er bleibt sich treu, passt in keine Schublade. Der SPD, die er bei der Ostpolitik Willy Brandts vehement unterstützt, hält er ihr Versagen von 1918 kritisch vor. Haffner  lässt sich nicht vereinnahmen, bleibt ein unabhängiger, kritischer Geist, An so einem können die politischen Sendungen der ARD nicht vorbeigehen: Seine unverwechselbare Stimme ist bald unüberhörbar in zahlreichen Radio- und TV-Sendungen.
Der erfolgreiche Autor historischer Literatur ist längst einer der bedeutendsten Publizisten Westdeutschlands,  gefragt  wegen seiner unorthodoxen, scharfzüngigen Analysen ebenso wie wegen seiner unkonventionellen Fragestellungen als Dauergast im „Internationalen Frühschoppen“ am Sonntagmorgen  im Ersten Fernsehprogramm. Der Sender Freies Berlin räumt ihm sogar eine eigene Sendung ein.


Sein Biograph Uwe Soukop schrieb zum 100. Geburtstag Haffners in der „Frankfurter Rundschau“ am 27. Dezember 2007:
Er „wollte nicht Journalist werden. Auch nicht Historiker. Schon gar nicht Lehrer, wie so ziemlich jeder in seiner Familie. Sein Vater war Schuldirektor und ein angesehener Reformpädagoge. Sebastian Haffner ist Journalist geworden, auch Historiker, kein forschender zwar, sondern ein erzählender, ein lehrender. Vielleicht der bekannteste Geschichtslehrer Deutschlands. Aber wie wird so einer, was er nicht werden wollte? Als es Haffner 1938 gelungen war, erst seine jüdische Verlobte, dann auch sich selbst aus Hitlerdeutschland herauszuschmuggeln, war er über Nacht de facto berufslos. Mit seiner juristischen Ausbildung konnte er in England nichts anfangen. Englisch konnte er kaum. Das Land seiner Wahl wäre Frankreich gewesen, aber was hätte es ihm genutzt? In England war er sicher, und er begann zu schreiben. Dem ständig am Rande des materiellen Abgrundes balancierenden Verleger Frederic Warburg bot er ein Exposé und einige Kapitel an: Die Geschichte eines Deutschen, ein Wagnis. ‚Dieser Text war mein erster Einfall. Ich überlegte, was kannst du denn eigentlich schreiben? Und es fiel mir auch auf, dass man in England damit vielleicht ein Publikum finden konnte, denn das Verhältnis zu Deutschland mit dem in der Luft liegenden Krieg war ja da, und in vielen Kreisen fragte man sich, was ist dieses Deutschland eigentlich, wir haben es doch gekannt. Sind die Deutschen verrückt geworden, sind sie wirklich alle verrückt geworden?‘ Das Wagnis bestand darin, dass er versuchte, die jüngste Geschichte Deutschlands anhand der Geschichte eines jungen Deutschen zu beschreiben – seiner eigenen.


Der Verleger war begeistert und bot Haffner einen Buchvertrag. ‚Haffner wusste nicht, in welcher verzweifelten Notlage sich der Verlag befand, und ich traute mich nicht, es ihm zu erzählen. Aber ich erinnere mich an seinen Entwurf als den brillantesten, der mir jemals vorgelegen hat.‘ Haffner war glücklich und sah zum ersten Mal eine ‚wenn auch noch so kleine Grundlage, auf der man irgendwie zu existieren anfangen konnte‘. Er erhielt zwei Pfund Sterling die Woche.


Nach wenigen Monaten, bei Kriegsbeginn, bekam Haffner Skrupel. Unmöglich könne er weiterhin etwas dermaßen Persönliches schreiben. Er legte seine Erinnerungen beiseite und begann eine Analyse der deutschen Gesellschaft, die er ‚Deutschland, ein Querschnitt‘ überschrieb. Von Warberg stammte der spätere Titel ‚Germany: Jekyll and Hyde‘.“


Für  Soukup gehört Sebastian Haffner nicht zu der Gruppe jener intellektueller Emigranten, über die Adorno schrieb, dass sie ohne alle Ausnahme beschädigt seien und gut daran täten, dies zu erkennen: „Für Haffner war das Exil ein Glücksfall. Es schuf ihn, was durch die Tatsache unterstrichen wird, dass er sich im Exil für sein erstes Buch das Pseudonym zulegte. Niemand kennt Raimund Pretzel, so Haffners bürgerlicher Name.“


Autoren:

Hajo Jahn und – zitiert – Uwe Soukup. (Soukop ist Autor des Buches „Ich bin nun mal Deutscher. Sebastian Haffner. Eine Biographie“, erschienen 2001 im Aufbau-Verlag)


Publikationen

Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. Hamburg 1964, ISBN 3-7857-0294-9 (2. Aufl. 1981)

Winston Churchill in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1967, ISBN 3-499-50129-5 (2. Aufl. 1974)

Der Teufelspakt: 50 Jahre deutsch-russischen Beziehungen. Reinbek bei Hamburg 1968, (ohne ISBN)

Die verratene Revolution – Deutschland 1918/19. Stern-Buch, Hamburg 1969, (ohne ISBN)

Anmerkungen zu Hitler.  Frankfurt am Main 1978, ISBN 3-596-23489-1

Die deutsche Revolution 1918/1919 – wie war es wirklich?. München 1979, ISBN 3-463-00738-X

Preußen ohne Legende (Bildteil: Ulrich Weyland, Hrsg.: Henri Nannen). Stern-Buch, Hamburg 1979, ISBN 3-570-01123-2

Überlegungen eines Wechselwählers. München 1980, ISBN 3-463-00780-0

Preußische Profile (mit Wolfgang Venohr ,Hrsg.). Königstein im Taunus 1980, ISBN 3-7610-8096-4

Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg Bergisch Gladbach 1981, ISBN 3-7857-0294-9

1918/1919 – eine deutsche Revolution. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1981, ISBN 3-499-17455-3

Sebastian Haffner zur Zeitgeschichte. München 1982, ISBN 3-463-00839-4

Im Schatten der Geschichte: Historisch-politische Variationen. Stuttgart 1985, ISBN 3-421-06253-6

Von Bismarck zu Hitler: Ein Rückblick. München 1987, ISBN 3-463-40003-0

Der Teufelspakt: Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. Zürich 1988, ISBN 3-7175-8121-X

Der Verrat. Deutschland 1918/1919. Neuauflage von ‚3‘, Berlin 1993, ISBN 3-930278-00-6

Germany: Jekyll & Hyde. London 1940, Berlin 1996, ISBN 3-930278-04-9

Zwischen den Kriegen. Essays zur Zeitgeschichte. Berlin 1997, ISBN 3-930278-05-7

Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933. (Geschrieben um 1939, aus dem Nachlass veröffentlicht), Stuttgart & München 2000, ISBN 3-421-05409-6

Der Neue Krieg (mit einer E-Mail von Juergen Kuttner). Berlin 2000, ISBN 3-89581-049-5

Historische Variationen. Stuttgart 2001, ISBN 3-421-05503-3

Die Deutsche Frage: 1950-1961: Von der Wiederbewaffnung bis zum Mauerbau. Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-15536-3

Das Leben der Fußgänger. Feuilletons 1933-1938. München 2006, ISBN 3-423-34293-5

Die Kommentare sind deaktiviert.