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Natonek, Hans

H.A.M. 0

Hans Natonek
Schriftsteller und Journalist


Geb. 26.5.1918 in Prag/ Tschechoslowakei
Gest. 1963 in Tucson/ USA


Hans Natonek war seit 1923 Feuilletonchef der zum Ullstein-Konzern gehörenden liberalen „Neuen Leipziger Zeitung“, Mitarbeiter der Weltbühne, Romancier, gehörte zum Freundeskreis von Joseph Roth im Pariser Exil. Über den größten Journalistenroman der Weimarer Republik, „Kinder einer Stadt“ von Hans Natonek, urteilte Roth: „Glänzend“. Er erschien ein Jahr vor dem Ende der Demokratie in Deutschland.


Vier Prager Jugendfreunde bleiben verbunden durch denselben Beruf. Den vieren, die Journalisten werden, ist aber im Kern anderes wichtiger als der Beruf: dem einen die Jagd auf die Frauen, dem anderen der Kommunismus, dem dritten Gott und dem vierten der Haß auf alle drei. Dieser vierte ist der „Sklave eines Pensums“, das Rache heißt. Jakob Dowidal, der in seiner Jugend Gedemütigte, der sich alles mühselig erkämpfen muß, der die eigene Angst vertreibt, indem er Angst verbreitet, sucht Erlösung durch Vernichtung derjenigen, die es ihm beim Aufstieg so schwer gemacht haben. Trifft er den Großbürgersohn Egon Epp, dessen Überlegenheit er insgeheim bewundert und die er durch keinen Aufstieg erreichen wird, dann trifft er sie alle, die das Oben gepachtet haben. Und er trifft ihn, jagt den gehaßten Jugendfreund von einst in den Selbstmord – mit einem inszenierten Sittenskandal, den er gegen Epp öffentlich ausschlachtet. Doch um den liberalen Journalisten Epp zu vernichten, hat er sich Macht suchen müssen bei jenen Reaktionären, die Hitler an die Macht bringen werden und ihn, den Juden, der seine Herkunft verwischt hat, verfolgen werden.


Hans Natonek, Ehemann, Vater zweier Kinder, ist auch ein Jude, der 1933 versucht, seine Herkunft zu verwischen. Hans Natonek wäre in Deutschland sitzengeblieben, wäre ein Opfer des Holocaust geworden, hätte ihn nicht Erica Wassermann, Tochter eines Hamburger Patentanwalts und Mitbegründer der Hamburger Universität, gerettet. Die beiden hatten sich ineinander verliebt, sie, die 22jährige Redakteurin an seiner Zeitung, und er, der 40jährige Feuilletonchef.
Als verwitwete Erica-Schmidt-Wassermann fand ich 1986 die Liebe von einst in New York. „Es war lange nichts zwischen uns“, erinnerte sich die 77jährige, die zwei Jahre nach unserem Gespräch starb. „1932 fing es an mit dem braunen Höllenzauber. Die Sache wackelte. Da sind wir uns nähergekommen. Der schreiberische Mut in der Redaktion zerbröselte. Die Vorsicht wuchs. Die Feigheit kam mit kleinen Schritten daher. Sie schloß uns beide aus, noch bevor die große Angst die anderen hintrieb zu den Nazis. Hans wollte nicht wahrhaben, daß sein bester Freund, der Chefredakteur Lehmann, sich zum schlimmsten Opportunisten entwickelte.“


Erica Wassermann wurde am 1. April 1933 entlassen. „Da waren wir schon seit Monaten zusammen. Seine Ehe war längst kaputt. Doch seine Frau war eine starke Frau. Er hat starke Frauen immer gebraucht, war ihnen aber nie gewachsen. Er kam nicht weg aus der Ehe. Er war ein Mann von Gewissen. Aber seine Schuldgefühle hatten einen selbstzerstörerischen Charakter. Er stand plötzlich da in einer doppelten Katastrophe. In der politischen und in der privaten. Und daraus wurde ein schrecklicher Mischmasch. Das Hass-Vokabular der Nazis wurde das Vokabular seiner verzweifelten Frau. Auch in dieser Hinsicht waren wir zwei Juden.“


Erica Wassermann wußte sofort: „Wir mußten raus aus Deutschland. Dieses Bewusstsein war so selbstverständlich wie meine Liebe. Wer weiter muß, den trägt der Silbersee.’ Dieser Satz aus dem letzten Stück, das von Georg Kaiser in Deutschland aufgeführt wurde, ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hab’ mit Hans die Uraufführung erlebt. Für ihn, den Kritiker, war die Rezension die Fortsetzung seines Kampfes gegen die Nazis. Und die Nazis waren zu jenem Zeitpunkt schon an der Macht. Für mich war das Stück ein persönlicher Anruf.“ Erica Wassermann sagt: „Hans wollte nicht weg. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er Jude aus Prag war. Und so, wie er sich in sein Redaktionszimmer eingeschlossen hat und nichts zur Kenntnis nehmen wollte, bis man ihm sagte, du mußt gehen, so hätte er sich auch sonst verhalten. Ich hab’ eine wahnsinnige Angst um ihn gehabt. Ich hab ihn bei Nacht und Nebel in einen Zug gesetzt, und er ist ins Tessin gefahren. Nach Ascona. Er hat irgendwo in den Bergen eine Hütte gesucht. Ich kam nach. Er hat seiner Frau geschrieben. Und sie ist gekommen, und sie hat ihn mitgenommen nach Deutschland. Er ist tatsächlich zurückgefahren. Ich bin dann nach Paris gereist. Ich dachte: Nun ist alles vorbei.“


Es war nicht vorbei. Es wird erst viel später vorbei sein, und dann wird er ihr nachtrauern in fast allen Büchern, die er noch schreibt. „Ich weiß nicht, wie lange Hans in Leipzig blieb“, berichtete Erica Wassermann. „Er hat meine Adresse in Paris herausgefunden. Er hat mich aus Berlin angerufen. Er hatte sich scheiden lassen. Wir haben uns in Hamburg getroffen. Wir haben geheiratet, und wir haben bei meinen Eltern gewohnt. Ich habe für ihn Recherchen für seinen Chamisso-Roman gemacht, und er hat geschrieben.“ Auch in Hamburg ist es Erica Wassermann, die für Natonek die Flucht über die deutsche Grenze organisierte. Natonek war staatenlos. Die deutsche Staatsbürgerschaft war ihm aberkannt worden. „Der Freund unseres Hausmädchens“, berichtete die 77jährige mir, „war mit dem Zugführer des Zuges nach Prag befreundet. Der Zugführer hat ihn versteckt. So ist er über die Grenze in die Tschechoslowakei gekommen.“ Das war im Mai 1935. Erica Wassermann folgte ihm. Die Ehe der beiden zerbrach noch in Prag. Erica Wassermann arbeitete in Prag für das „British Committee for Refugees from Czechoslovakia“ und den Fonds von „News Chronicle“.


„Wir haben viele herausbekommen nach England“, erinnerte sie sich. „Hans hat sich an meiner Arbeit nicht beteiligt. Hans saß abseits und schrieb. Je unsicherer, je unglücklicher er wurde, um so mehr Papier stapelte er um sich.“ Erica Wassermann ging nach England ins Exil, Hans Natonek nach Frankreich. Dreimal wurde sie ausgebombt. Am Ende ist ihr in England nichts geblieben als das Kleid auf dem Leib: „Gerettet habe ich nur das Bild von ihm und mir. Ja, Hans war ein schwacher Mann. Aber nur schwache Männer sind großartige Männer.“
Ich schaute vom Mitschreiben auf und sah wie Erica Wassermann weinte: „Prag war für mich die schönste Stadt meines Lebens. Die Zeit mit Hans in Prag war meine glücklichste Zeit und meine unglücklichste. Ich wollte ein Kind von ihm haben, und er wollte nicht. ‚Nicht in dieser Zeit’, hat er gesagt. Ich war schwanger. Ich hab das Kind verloren. So bin ich gegangen.“


Über sich in der letzten Phase der Weimarer Republik, über den Beginn des Nazi-Staats, über den Journalismus in dieser Phase, über das Ende seiner Ehe, über die Liebe zu Erica Wassermann und über die Flucht nach Prag schrieb Natonek unter dem Titel „Die Strasse des Verrats“ einen Roman. Das Manuskript gehörte zum Inhalt von fünf Koffern, die Natonek beim Einmarsch der Deutschen in Paris in seinem Zimmer zurückließ. Die Gestapo, die den Schriftsteller verhaften wollte, beschlagnahmte die Koffer und schickte sie nach Berlin. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Gestapo-Beute in den Besitz der DDR über. Die Materialien wurden vom Zentralen Staatsarchiv in Potsdam verwaltet, das nach 1989 vom Bundesarchiv übernommen wurde.


Im Jahre 1982 veröffentlichte der Ostberliner Verlag „Der Morgen“ das Romanmanuskript. Ein Raubdruck. Die Rückgabe der von der Gestapo beschlagnahmten Materialien an die in den USA lebende Erbin Natoneks verweigerte die DDR. Der Roman „Die Straße des Verrats“ ist längst vergriffen. An einer Neuausgabe war bisher niemand im wiedervereinigten Deutschland interessiert. Sie könnte umso interessanter sein, als Erica Wassermann gewissermaßen ein Gegenstück zu Natoneks Roman geschrieben hat, wovon er nichts wusste, wie sie auch nichts von seiner „Straße des Verrats“. Das Typoskript, das in der Ausstellung gezeigt wird, ließ mir Erica Wassermann zukommen.
Hans Natonek erreichte mit den Schriftstellerkollegen Walter Mehring und Hertha Pauli 1940 Lissabon und gelangte nach New York. Dort heiratete er die Frankfurter Tanzpädagogin Anne Grünwald und zog mit ihr nach Tucson/Arizona, wo er 1963 starb. „Auf der Suche nach mir selbst“ erschien in amerikanischer Übersetzung 1943 in New York. Seinen Roman „Blaubarts letzte Liebe“, in dem er seiner eigenen Liebesproblematik nachging, gab ich 1988 im ZsolnayVerlag heraus. In Tucson wechselte Natonek die Sprache. Keines dieser englisch geschriebenen Bücher ist bisher erscheinen.


Autor:

Jürgen Serke


Anmerkung der Redaktion:

Die ausführliche Natonek-Biografie hat Jürgen Serke in seinem Buch „Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft“ veröffentlicht. Darin ist nachzulesen, wie Hans Natonek von Amerika aus für seinen Sohn Wolfgang kämpfte, der als Opfer stalinscher Willkür im Lager Bautzen und dann in der Festung Thorgau verschwand, verurteilt zu 25 Jahren Zwangsdarbeit. Die amerikanischen Medien berichteten ausführlich über den liberalen Studentenführer, der der kommunistischen Gleichschaltung im Wege stand. Es war der Anfang des Kalten Krieges:

Der 26jährige Wolfgang Natonek wird als Student der Germanistik, Anglistik und Zeitungswissenschaften an der Universität Leipzig Mitglied der Liberaldemokratischen Partei, der auch die später in der Bundesrepublik bekannten Politier Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnik angehören. Wolfgang Natonek wird bei den ersten Studentenratswahlen 1946 zum 1. Vorsitzenden gewählt, doch die SED-Presse schreibt: „Wie lange duldet die fortschrittliche Studentenschaft den Reaktionär Natonek noch an der Spitze der Studentenschaft?“ Dennoch fragt ihn der damalige FDJ- Vorsitzende der DDR, der spätere Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, ob er nicht zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands übertreten wolle. Doch Natonek lehnt ab und stellt sich zur inzwischen dritten Wahl zur Studentenschaft in Leipzig, während die Studentenräte in Rostock, Jena, Halle und an der TH Dresden längst aufgelöst oder gleichgeschaltet sind.


Am 11. November 1948 wird Wolfgang Natonek auf dem Heimweg von russischen Offizieren verhaftet und in das Haus der ehemaligen 48. SS-Standarte Leizig gebracht, das inzwischen als Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes NKWD dient. Monatelang bleibt er in einem nackten Kellerraum ohne Pritsche. Verhört wird er nachts, also gefoltert. Trotzdem findet sich kein Grund für eine Anklage. Nach seiner Haftentlassung 1956 heiratet Wolfgang Natonek die Frau, die er kurz vor seiner Verhaftung kennengelernt und die acht Jahre lang auf ihn gewartet hatte.

Als der staatenlose Natonek 21 Jahre nach den Nürnberger Rassegesetzen um die DDR-Staatsangehörigkeit „nachsuchen“ soll, ging er nach Westberlin, von wo er in die Bundesrepublik flog. Dort wurde er Paß-Deutscher ohne Schwierigkeiten.


Literatur:

Jürgen Serke: „Böhmische Dörfer. Wanderungen
durch eine verlassene literarische Landschaft“
Paul Zsolnay Verlag Wien-Hamburg 1987
ISBN 3-552-03926-0 (vergriffen)


Links (deutsch):

http://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/natoneknyman.pdf

http://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/natonekgetto.pdf

http://www.uni-klu.ac.at/uniklu/fd/fa_details.jsp?fanr=1317&titlelang=35

http://www.uni-mainz.de/~hilst005/NatonekGeld.htm


International:

 

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