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Minder, Robert

H.A.M. 0

Robert Minder
Schriftsteller und Literaturwissenschaftler


Geb. 23. 8. 1902 in Wasselnheim (Elsaß)/ Deutsches Reich
Gest. 10. 9. 1980 in Cannes/ Frankreich


Die Geschichte der deutschsprachigen Exilanten in Frankreich wäre in diesem virtuellen Museum der verfolgten Künste und Intellektuellen höchst unvollkommen, würde man den Elsässer Robert Minder auslassen, der Freund, Wegbegleiter und Helfer von geflüchteten Autoren war. Als Schriftsteller und Literaturwissenschaftler wird Minder längst gewürdigt. Marcel Reich-Ranicki etwa schildert ihn in seinem dtv-Buch Die Anwälte der Literatur als einen „Literaten vom Geschlecht jener, die Wissenschaftler werden und doch Literaten bleiben. Er ist ein Aufklärer mit dem Temperament eines Artisten, ein Gelehrter mit Grandezza und mit leisem Humor, ein listiger Rhetoriker ohne Prunk und Selbstgefälligkeit.“ Das und vieles mehr stimmt, ist aber zu kurz gegriffen. Deshalb greifen wir auf einem Artikel zurück, der am 12. September 2005 in der ZEIT erschien.


Melancholisch schreibt Robert Minder am 23. August 1974 an den Schriftstellerfreund Hermann Kesten. Wie gewöhnlich verbringt er einige Sommerwochen im Haus des väterlichen Freundes Albert Schweitzer im elsässischen Günsbach, um die Angelegenheiten der französischen Schweitzer-Freunde zu ordnen, die Nachlass-Papiere im Albert-Schweitzer-Archiv durchzusehen, immer auch auf der Suche nach Material für ein deutsches Porträt des Theologen. Die Vorbereitungen für den 100. Geburtstag Schweitzers im nächsten Jahr laufen auf Hochtouren, und die Tage sind voller Hektik und organisatorischer Geschäftigkeit. Aber es ist auch der Geburtstag Minders, der 72., und wie immer an diesem Tag wandern die Gedanken zurück, Erinnerungen verdichten sich zu Bildern, und die großen Lebensfragen drängen in den Vordergrund.

„Wie kam es, dass wir 1940/ 45 davon kamen?“, sinniert Minder, nicht zufällig gemeinsam mit Kesten. Mit dem querulatorischen Erzähler und Essayisten verbindet ihn seit fast dreißig Jahren die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die Trauer über den Tod von Freunden und Bekannten und das Nachdenken über die deutschen Ursachen. Lebhaft steht Minder der 16. Mai 1940 vor Augen, als er Kesten in Paris kennen lernte. Der Freund Alfred Döblin, mit dem er ein Büro im französischen Informationsministerium teilte und Flugblätter gegen die Deutschen schrieb, hatte ihn auf die Straße geholt, und gemeinsam hatten sie vor dem requirierten Hôtel Continental gegenüber dem Tuilerienpark gestanden und beratschlagt, wie Kesten unbehelligt von den französischen Sicherheitsbehörden aus Paris entkommen könnte. Kesten hat Glück, knapp gelingt ihm die Flucht nach Amerika. Ebenso wie dem Ehepaar Döblin, mit dem Minder im Juni 1940 gemeinsam vor den Deutschen aus Paris geflüchtet war. Im Juli 1940, am letzten Gültigkeitstag des Ausreisevisums, „leiht“ ihnen ein französischer Präfekturbeamter das fehlende Geld für die Zugfahrt von Marseille über Perpignan nach Lissabon und ermöglicht die Flucht nach New York.


Andere wurden aufgegriffen und deportiert. Minder denkt an das Philosophen-Ehepaar Landsberg aus Bonn. Vor seiner Emigration wurde Paul Landsberg als Nachfolger Max Schelers gehandelt. In Paris hatte er nach 1936 Anschluss an die Kreise um Jean Wahl gefunden, und seine Theorie des Engagements war nicht nur für die Personalisten wichtig gewesen, die sich um den katholischen Philosophen Emmanuel Mounier und die Zeitschrift Esprit sammelten. Alles war für seine Ausreise in die USA vorbereitet, die Papiere lagen bereit, aber Landsberg wollte in der Nähe der Anstalt bleiben, in der seine Frau Madeleine (Magdalena) nach dem psychischen Schock der Internierung in Gurs behandelt wurde. Er wurde denunziert und nach Oranienburg deportiert. Die Witwe des Freiburger Kunsthistorikers Ernst Polaczek, eines engen Mitarbeiters Georg Dehios, wurde in Auschwitz vergast. Minder hatte Friederike Polaczek ein Versteck in Grenoble besorgen können, aber sie wurde bei einer Razzia gefunden.


Einigen Emigranten konnte Minder, der seit Herbst 1940 als Germanist an der Grenobler Universität lehrte, durchaus helfen. Sein Büro an der Fakultät war eine wichtige Anlaufstelle für deutsche und tschechische Flüchtlinge. Pässe wurden besorgt, Arbeitsstellen und andere Kontakte vermittelt, bis die Gestapo im Herbst 1943 nach dem Germanisten suchte und er aufs Land flüchten musste. Aber was bedeutet das angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, der Aktionen und Schicksale der anderen? Der Freund Pierre Brossolette, mit dem Minder als junger Normalien 1923 eine internationale Verständigungsgruppe gegründet hatte, die Schriftsteller und Intellektuelle zu Gesprächsrunden in die Rue d’Ulm einlud, war im März 1944 aus dem Fenster der Pariser Gestapozentrale gesprungen, um die Details seiner Londoner Mission nicht preiszugeben. Der französische Mentalitäten-Historiker Marc Bloch, der in den zwanziger Jahren an der Straßburger Fakultät eine Gehaltserhöhung Minders befürwortet hatte, wurde im Juni 1944 als Mitglied des „Franc-Tireur“ erschossen. Der Soziologe Maurice Halbwachs, dessen Überlegungen zum „kollektiven Gedächtnis“ Minders Forschungen in den 40er-Jahren eine neue Richtung gaben, verhungerte im März 1945 in Buchenwald.


Immer häufiger wendet sich in den siebziger Jahren der Blick des Germanisten zurück. In die Trauer um die Freunde mischen sich Fragen nach der eigenen Leistung. Eine beachtliche Karriere hat der französische Germanist am Collège de France in den 60er- und 70er-Jahren in der Bundesrepublik gemacht. Seine Essays werden als Kabinettstücke deutscher Prosa und kritische Anmerkungen zu deutschen Befindlichkeiten gefeiert. Er ist ein deutscher „Bestseller-Autor“ geworden. Die 10.000 Exemplare des ersten Essaybandes Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich (1962) waren schon nach vier Monaten vergriffen. „Man muss das als Deutscher lesen. Wer dem ausweicht, setzt sich ins Unrecht – und nur wer annimmt, was uns da ins Stammbuch geschrieben wird, kann und darf einiges korrigieren“, hatte wohlwollend die Frankfurter Allgemeine Zeitung konstatiert.


Viel zitiert wird insbesondere der Essay zum Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur, in dem Minder die Tiefenwirkung der „protestantischen Sozialethik“ und ihre „nestversponnene Innerlichkeit“ geißelt. Ein Klassiker ist auch die Sadomasochismus-Analyse im Essay zur Kadettenhaus-Literatur geworden, die direkt in die jüngste deutsche Vergangenheit führt und Literatur und Politik in ungewohnt deutlicher Weise zusammenbringt. Dass Minders Kritik sich nicht gegen die deutsche Innerlichkeit als solche, sondern ihre „kleinbürgerlich-pervertierte Schrumpfform“ richtet, die sich „ohne den leisesten Widerstand einer massiv hereinmarschierenden Pseudo-Gemeinschaft“ ausliefert, ist im Eifer der Diskussionen allerdings übersehen worden.


Als der zweite Essayband Dichter in der Gesellschaft (1966) erscheint, ist Minder den Lesern der deutschen Feuilletons kein Unbekannter mehr. Seine Essays sind in den großen Zeitungen vorabgedruckt worden und ihr Autor hat zahlreiche Preise und andere Ehrungen erhalten. Der Band überrascht mit zarten Porträts Jean Pauls und Johann Peter Hebels, die eigentliche Sensation aber ist die sozioliterarische Analyse der Sprache von Meßkirch gewesen, mit der Minders Heideggerkritik ihren Höhepunkt erreicht. Der Text greift in weite kulturhistorische Horizonte aus und bleibt doch immer dicht am Detail, körnig-konkret schöpft Minders Sprache ihre Möglichkeiten aus, wenn sie Heidegger mit harten parataktischen Fügungen zu Leibe rückt.
Dann folgen verschiedene Neu-Zusammenstellungen aus den Essaybänden. Mit der Sammlung Hölderlin unter den Deutschen in der Edition Suhrkamp ist Minder 1968 Suhrkamp-Autor geworden. Ein dritter Essayband erscheint 1971 unter dem Hölderlin-Titel Wozu Literatur in der Bibliothek Suhrkamp, und 1974 bringt Unseld in seiner Wissenschaftsreihe Minders Doktorarbeit über Karl Philipp Moritz aus dem Jahr 1936 neu heraus. Aber eine „richtige Monographie“ hat der französische Germanist seit Allemagnes et Allemands (1948) nicht mehr geschrieben.


Von dem groß angelegten französischen Deutschlandprojekt Allemagnes et Allemands, das sich vorgenommen hat, in drei Bänden die Regionalgeschichten der deutschen Vorstellungswelt zu erzählen, ist 1948 nur der erste Band über das Rheinland erschienen. Immer wieder ändert Minder die Konzeption und sitzt in den Semesterferien an dem Text, der sein Lebenswerk werden soll. Das Projekt hat er einer faszinierenden, aber schwer durchzuhaltenden Doppelperspektivik verschrieben. Es soll nicht nur eine Art Einführungslexikon in eine umfassende Deutschlandkunde sein, sondern gleichzeitig ein kritisches Inventar der zentralen deutschen Mythen. Ausgehend von den Fragen, welche Bilder die Deutschen von sich und ihrer Geschichte im Kopf haben und welche Rolle regionale Identitäten bei der Herausbildung der „nationalen Geschichtsoptik“ spielten, hätte das Buch auch methodisch innovativ sein können.


Mit den Jahren aber ist das Material ins Unübersehbare angewachsen, und es stellt sich, je länger je mehr, die Gewissheit ein, dass das französische Projekt wohl ein Torso bleiben wird. Immer wieder fragt sich der Germanist, wie man ein solches Monumentalprogramm hätte umsetzen können. Die Abschiedsvorlesung am Collège de France 1973 wird zu einer Mea culpa. Natürlich erschwerte die Teilung Deutschlands die Realisierung eines solchen regionalistischen Projekts, natürlich wandelte sich das Forschungsobjekt dem Forscher unter der Hand und die Methoden der 40er-Jahre müssen sich anfragen lassen, aber hätte nicht eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, ausgestattet mit einem großzügigen Etat, die Aufgabe lösen können? Eine Art Deutschland-Labor am Collège de France?


Der Skeptiker und Ironiker Minder lässt seinen Bedenken und Zweifeln freien Lauf, eines aber erwähnt er nicht: seine Verunsicherung durch die Zweisprachigkeit. Das „Doppelleben“ des Elsässers zwischen zwei Sprachen hat sich als manifestes Schreibhindernis herausgestellt. Die Leser der deutschen Essays loben die Tatsache, dass beide Sprachen sich immer und ungewollt durchdringen und die Darstellungsweise der einen auf die andere abfärbt. Den kreativen Sprachgestalter selbst ängstigt das Eigenpotential der Sprache.


Der Gedanke, an den eigenen Ansprüchen gescheitert zu sein, lässt Minder nicht mehr los. Überquellende Zettelkästen, Bücherskelette in den Regalen – die Liste der ungeschriebenen Bücher ist lang. Menschlich schwer wiegt das Ausbleiben der so viel versprechenden Monographie über Alfred Döblin. Die zwanzigjährige Freundschaft hätte das Buch zu etwas sehr Besonderem gemacht. Alles hatte 1937 mit einem Artikel Minders über Döblins Exilroman „Pardon wird nicht gegeben“ begonnen, nach dessen Lektüre Döblin dem Germanisten enthusiastisch „von innen einiges Material“ angeboten hatte. Bis zu dessen Tod im Jahr 1957 hat Minder den wohl engsten seiner Schriftstellerfreunde begleitet, der ihm in den Jahren zuvor seine Lebensbeichte in die Feder diktiert hatte. Der Rückgriff auf diese Informationen wird den Germanisten im Jahr 1979 wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte Döblins vor das Berliner Landgericht bringen.


Schon im August 1974 schwebt die Prozessandrohung über Minder, und die zunehmenden Querelen mit der Familie bringen ein Döblin-Buch von vornherein in ungeahnte Schwierigkeiten. Während der Prozess sich hinzieht, wird Minder am 10. September 1980 einem Herzinfarkt erliegen. Der Skandal aber hat Kreise gezogen. Anlässlich des Prozessbeginns hat Fritz Raddatz in Absprache mit Hans Mayer in der ZEIT vehement die Sache einer Literaturwissenschaft vertreten, die „schmerzhafte Porträtskizzen“ Heldendenkmälern vorzieht und dabei auch Sexuelles nicht ausspart.


Der Blick des Germanisten fällt aus dem Fenster auf die Hauptstraße Günsbachs. In dem kleinen Dorf am Hang der Vogesen gibt es keine Pfarrei mehr, und auch die Post ist eingegangen. Minder gefällt das und vor allen Dingen die Tatsache, dass keine Albert-Schweitzer-Andenkenläden eröffnet wurden und keine Hotels, in denen die Touristen absteigen könnten. Die Abneigung gegen das „Durchorganisieren“ teilt er mit Schweitzer selbst. Minder kann sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn er daran denkt, wie er im Herbst des Jahres 1919 den schweren Glockenzug des alten Pfarrhauses am St. Nikolausstaden in Straßburg in Bewegung setzte, weil er gehört hatte, der Vikar von St. Nikolaus nehme Klavierschüler. Ausgerechnet die romantische Busoni-Bearbeitung der Chromatischen Fantasie von Bach hatte er dem Bachforscher Schweitzer vorgespielt, der so viel Wert auf das Herausarbeiten der klassischen Linien legte.


Autorin:

Anne Kwaschik (Historikerin, Berlin)


Literatur:

Albrecht Betz / Richard Faber (Hrsg.):
Kultur, Literatur und Wissenschaft
in Deutschland und Frankreich
Zum 100. Geburtstag von Robert Minder
Verlag Königshausen und Neumann,Würzburg 2004
ISBN 3-8260-2925-9

Robert Minder:
Wozu Literatur?
Reden und Essays
Bibliothek Suhrkamp 2002
ISBN 3-518-01275-4


Links (deutsch):

http://www.freitag.de/2002/51/02511403.php

http://www.koenigshausen-neumann.de/buecher/01_05/betz.htm

http://www.berlinerliteraturkritik.de/index.cfm?id=8262

http://www.dla-marbach.de/index.php?id=53255

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