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Kisch, Egon Erwin

H.A.M. 0
Egon Erwin Kisch
Journalist und Schriftsteller

Geb. 29.4.1885 in Prag/ Österreich-Ungarn
Gest. 31.3.1948 in Prag /Tschechoslowakei


„Ich habe Prag nie verlassen, so intensiv auch ich mich davon entferne, so intensiv auch ich in allen fünf Weltteilen lebte. Und ich lebe auch jetzt dort…“

(Mexiko, 1942)

„Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt. Er hat unbefangen Zeuge zu sein und hat unbefangene Zeugenschaft zu liefern, so verlässlich, wie sich eine Aussage geben lässt.“

(Egon Erwin Kisch, Schöpfer und Meister der literarischen Reportage. Kommunist, Bürgerlicher, Jude, Tscheche, Deutscher, Internationalist, Weltbürger…)

„Er sprühte und knisterte vor Lebendigkeit, Kampfeslust, Witz und Einfällen“

(Irmgard Keun über Egon Erwin Kisch)

Der Sohn des jüdischen Tuchhändlers Hermann Kisch und dessen Frau Ernestine (geb. Kuh) studiert nach dem Abschluß der Realschule ab 1903 in Prag an der Technischen Hochschule und der Deutschen Universität. Ein Jahr später meldet er sich als Einjährig-Freiwilliger zum Militärdienst.

1906 wird Kisch – nach dem Besuch einer Journalistenschule – Volontär beim Prager Tageblatt und arbeitet bis 1913 als Lokalreporter für die Prager Tageszeitung Bohemia, in deren Feuilleton er seine ersten Reportagen, meist Schilderungen aus dem Milieu der Armenviertel, veröffentlicht.

„Eine Minute von der Elisabethstraße entfernt, in der alltäglich Fiaker, Automobile, Straßenbahnwagen, Equipagen und Droschken nach dem Baumgarten hinausfahren, zweigt von der Klemensgasse die Neumühlgasse ab. Sie ist keine Verkehrs-straße; vier scharfe Ecken bildend, kehrt sie zur Klemensgasse zurück. Hier ist nichts mehr von Promenade, nichts mehr von Luxusfuhrwerken zu merken. Nur wenige Passanten bevölkern sie. Abends jedoch sammeln sich hier Gruppen von Menschen an, die des Augenblicks harren, wo sich das Haus Nr. 11 eröffnet, auf dem in großen schwarzen Lettern die Worte ‚Utulna – Asyl‘ stehen.
In diesem Haus, das Eigentum des Prager Asylvereines für Obdachlose ist, habe ich gestern übernachtet. Bei einem Freunde, der in der nahen Sametzgasse wohnt, hatte ich mich vorher in full dress geworfen. Den Rock, den ich anhatte, hatte voriges Jahr unser Dienstmädchen einem Bettler geschenkt, aber dieser hatte die Annahme des Geschenkes unter schweren Beleidigungen abgelehnt. Wenn in dem Hut, den ich aufgesetzt hatte, noch die Firmabezeichnung erkenntlich wäre, könnte man ihn als famoses Mittel für Erpressungen verwenden: der Hutmacher würde jeden Betrag bezahlen, um diese seinen Namen tragende Schmach aus der Welt zu schaffen. Der Rock hatte zwar keine Fasson, aber dafür hatte er auch keine Farbe und Löcher, auf die jede Regimentsfahne stolz sein könnte. Die Risse der Stiefel waren durch die in sanften Wellenlinien hinabfallenden roten Socken teilweise verdeckt. Die Hosen – reden wir nicht davon.
So ging ich, in den wahrlich nicht verwöhnten Gassen des Petersviertels peinlichstes Aufsehen erregend, zum Asylhaus. Hier waren schon Gruppen von Obdachlosen angesammelt. Einige saßen auf dem Geländern, das die schmalen Anlagen der Klemenskirche umfriedet, andere auf den Stufen am rückwär-tigen Kircheneingang. Einige standen vor dem Eingang eines Gasthauses in der Klemensgasse, wieder andere an die Häuser der Neumühlgasse gelehnt. Auch Frauen waren darunter. Im ganzen tewa 70 Leute. Ein Doppelposten der Polizei hielt Wache…“
aus: Egon Erwin Kisch: „Eine Nacht im Asyl für Obdachlose“, in: Aus Prager Gassen und Nächten“, Verlag von A. Haase, Prag, Wien, Leipzig, 2. Auflage 1912, S. 43ff

Bild: © Ulrike MüllerTitelblatt mit Widmung: „Meinem lieben Genossen aus der Prager Journalistengilde, Hrn. Redakteur Novotny in Freundschaft. 24. Feber 1912 Egon Erwin Kisch“
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Kisch übersiedelt 1913 von Prag nach Berlin, wo er als Dramaturg am „Künstlertheater“ arbeitet und für das Berliner Tageblatt schreibt. Im Rang eines Korporals wird Kisch im Ersten Weltkrieg an der serbischen Front eingesetzt und schwer verwundet. Seine aus diesen Erfahrungen resultierende Entwicklung zum Pazifisten schildert er in seinem 1922 er-scheinenden Kriegstagebuch Soldat im Prager Korps (später erschienen unter dem Titel: Schreib das auf, Kisch!). 1917 folgt die Berufung als Oberleutnant zum Kriegspressequartier nach Wien. Er wird Mitglied in einem illegalen Arbeiter- und Soldatenrat, beteiligt sich am Wiener Januarstreik, mit dem Friedensverhandlungen erzwungen werden sollen und wird nach der Gründung der Roten Garde in Wien am 1. November 1918 deren Erster Kommandant. Kaum zwei Wochen später tritt er wieder von diesem Amt zurück und wird Redakteur der Zeitschrift Der Freie Arbeiter.


Während seiner Arbeit bei der Tageszeitung Der Neue Tag begegnet er 1919 Joseph Roth, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Im selben Jahr tritt Egon Erwin Kisch der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bei. 1920 kehrt er, nach seiner Ausweisung aus Österreich, nach Prag zurück, wo er an den Revolutionären Bühnen mitarbeitet und den Reportagenband Die Abenteuer in Prag veröffentlicht. 1921 zieht Kisch nach Berlin um und schreibt für diverse Zeitungen und Zeitschriften wie den „Berliner Börsen-Courier“ bis hin zur Roten Fahne. In den Jahren 1922 bis 1926 bereist Kisch (seit 1924 Mitglied im Schutzverband Deutscher Schriftsteller, SDS) und seit 1925 Redaktionsmitglied der Neuen Bücherschau) Europa, Nordafrika und die Sowjetunion.


1925 wird Kisch Mitglied der Kommunistischen Partei Deutsch-lands und arbeitet für die Neue Bücherschau. Der Titel seines Buches Der rasende Reporter wird zum Synonym für Egon Erwin Kisch, der seinen neuen Reportagestil inhaltlich und formal kontinuierlich weiterentwickelt: von seiner noch 1920 formulierten Definition der Reportage als neutrale Tatsachenberichterstattung rückt er ab und stellt die Parteilichkeit der Reportage (als revolutionäres Kampfmittel) in den Vordergrund, indem er zunehmend Ausbeutungsverhältnisse und Entfremdungsprozesse in der modernen Gesellschaft thematisiert. Zum Star wird Kisch in der Arbeiter Illustrierte Zeitung, dem medialen Flaggschiff des charismatischen kommunistischen Funktionärs Willi Münzenberg.
1928 gehört Egon Erwin Kisch zu den Mitbegründern des Bunds proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) und reist mit falschen Papieren in die Vereinigten Staaten, deren politische und kulturelle Situation er in Paradies Amerika eindrücklich schildert.


„Für einen Fehler bei der Arbeit, für ein geringfügiges Vergehen (wäre es nicht geringfügig, so würde ja der Arbeiter ohne weiteres entlassen) wird man ‚abgelegt‘. Auf einen Tag oder länger, bis zu vierzehn Tagen. Über diese strafweise Einzelaussperrung findet man kein Wort in den Büchern, die Ford betreffen. Auch in strafrechtlichen Werken steht nichts davon. In strafrechtlichen Werken steht, niemand dürfe seinem Richter entzogen werden, der nach den Paragrafen entscheiden soll und nach Anhörung von Zeugen und Sachverständigen und Plädoyers. Strafrecht, Strafgesetz und Strafvollzug sind bei Ford Motor Company einfacher geregelt. Wer in einen Strek gerät, während der Arbeitszeit einen Schluck Milch trinkt oder sonst wie dem General-Foreman, dem Werkmeister, Anlaß gibt, wird laid off. Bekäme – beispielsweise gesprochen – John D. Rockefeller wegen eines Fehlers an der Werkbank die gleiche Strafe, das heißt in der Höhe seines halben Monatseinkommens, so wäre das keineswegs die gleiche Geldstrafe, denn John D. Rockefeller könnte die eine Million Dollar von Ersparnissen bezahlen, der Fordarbeiter die sechzig Dollar nicht. Für diesen bedeuten vierzehn Tage lay off: Hunger samt Frau und Kind, Vorwürfe, unfreiwilliges Herumlungern daheim. Zwar könnte er anderswo Arbeit suchen, es gibt in Detroit Automobilfabriken genug, Chrysler-Dodge, General Motors, Packard, Studebaker, aber bevor er eine neue Stellung findet, läuft die Karenz ab, und er kann zurückkehren zu Ford. Bei der Wiedereinstellung wird sein Wochenloh auf fünfundzwanzig Dollar gekürzt, wodurch der Strafende Nutzen hat. Oft, wie zum Beispiel im Frühjahr 1927, werden Zenntausende ‚aus betriebstechnischen Gründen‘ abgelegt, alsbald jedoch wieder aufgenommen, aller-dings nicht zu dem längst erworbenen Lohn, sondern für fünf Dollar pro Tag. (Die Fordwoche hat nur fünf Arbeitstage.)“

aus: Bei Ford in Detroit, in: Egon Erwin Kisch, Gesam-melte Werke in Einzelausgaben, hrsgg. von Bodo Uhse und Gisela Kisch, Bd. IV: „Paradies Amerika – Landung in Australien“, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 3. Aufl. 1978, S. 267f.)


Nach Reisen durch Südwesteuropa und die Sowjetunion, wo er 1931/32 einen Lehrauftrag an der Hochschule für Journalistik in Charkow innehat, reist er illegal nach China. Die Reportagen aus dieser Zeit veröffentlicht er später in seinem Bericht China geheim.

Ende Januar 1933 kehrt Kisch nach Berlin zurück. Am Morgen nach dem Reichstagsbrand (28. Februar 1933) wird er ver-haftet und nach Prag abgeschoben, seine Bücher werden von den Nazis öffentlich verbrannt. Im Juni 1933 emigriert Egon Erwin Kisch nach Paris, wo er u.a. in der Internationalen Arbeiter-Hilfe sowie im Exil-SDS mitarbeitet. Über seine (illegale) Reise zum Weltkongreß gegen Krieg und Faschismus im australischen Melbourne berichtet Kisch in Landung in Australien.

Nach Paris zurückgekehrt, ist er 1935 – zusammen mit Heinrich Mann – im Vorstand des Ersten Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur, auf dem er den Vortrag Reportage als Kunstform und Kampfform hält. 1936 bis 1938 folgen Aufenthalte in Prag und Ostende (Belgien) und Reportagen als Berichterstatter für die Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg.
Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges flieht Kisch mit seiner Frau Gisela, die er im Oktober 1938 in Versalles geheiratet hat, von Paris nach Mexiko, wo er ab 1941 in Mexiko-City als Re-dakteur der Zeitschrift Freies Deutschland arbeitet und den Verlag El Libro Libre (Das Freie Buch) gründet. Seine mit-telamerikanischen Reise-Eindrücke schildert er in dem 1945 erscheinenden Buch Entdeckungen in Mexiko. Bereits 1942 kommt Kischs Erinnerungsbuch Marktplatz der Sensationen in Mexiko heraus.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kehrt Egon Erwin Kisch 1946 über New York und London in seine Geburtsstadt zurück, wo er nach seinem Tod im Frühjahr 1948 auf dem Prager Ko-lumbarium beigesetzt wird.


Werke:

Reportagen
Aus Prager Gassen und Nächten (1912)
Der rasende Reporter (Berlin 1924)
Hetzjagd durch die Zeit (Berlin 1926)
Zaren, Popen, Bolschewiken (Berlin 1927)
Marktplatz der Sensationen (Mexiko-City 1942)
Reiseberichte
Kriminalistisches Reisebuch (Berlin 1927)
Wagnisse aus aller Welt (Berlin 1927)
Paradies Amerika“ (Berlin 1930)
Asien gründlich verändert (Berlin 1933)
Eintritt verboten (Paris 1934)
Abenteuer in fünf Kontinenten (Paris 1936)
Landung in Australien (Amsterdam 1937)
Soldaten am Meeresstrand (Barcelona/Madrid 1938)
Entdeckungen in Mexiko (Mexiko 1945)

Literatur:

Marcus G. Patka:
Der rasende Reporter Egon Erwin Kisch
Eine Biographie in Bildern.
Mit einem Vorwort von Hellmuth Karasek.
Aufbau-Verlag, Berlin 1998.
ISBN 3-351-02472-X.

Karin Ceballos Betancur:
Egon Erwin Kisch in Mexiko
Peter Lang-Verlag, Europäischer
Verlag der Wissenschaften
Frankfurt/ Main 2000
ISBN: 3-63135947-0


CD-Empfehlung:

Egon Erwin Kisch – Erinnerungen
an den rasenden Reporter“
Feature von Renate Beckmann und Klaus Ihlau
O-Ton von Lenka Reinerová, Max Blair und Egon Erwin Kisch
Mit Peter Simonischek, Brigitte Karner, Peter Fitz,
Martin Seifert u.a.
Spielzeit: ca. 70 Min.
ISBN 3-89813-141-6
Produktion: SFB-ORB, SDR, ORF 1998
Der Audio Verlag 2001

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